berliner szenen
: Melodien gegen den Schmodder

Im Bett mit ihrer Kamera. Das Plakat, das die Ausstellung von Dayanita Singh bewirbt, funktioniert. Obwohl die Fotos und Installationen schon eine Weile zu sehen sind, kommen erstaunlich viele Menschen ins Erdgeschoss vom Gropius Bau. Fast alle gucken sich suchend um, wenn sie den Lichthof betreten. Wo steht der Chor, dessen Gesang den hohen Raum erfüllt?

Nicht mittendrin, nicht in den Ecken, auch nicht auf der Galerie der ersten Etage, wie ein Besucher wissen will. Der Gesang kommt aus zehn ausgezeichneten Lautsprechern, die als Surround System um einen gedachten Marktplatz arrangiert sind: ein stoffbezogener Baum inmitten von vielen bunten Sitzwürfeln. Ich finde die Musik sehr berührend und bedaure, dass nach drei Liedern Schluss ist. Das reicht Ihnen immer noch nicht, fragt mich genervt ein Aufseher. Zu jeder vollen Stunde beginnt die Musik aufs Neue, immer 40 Minuten lang. Ich warte bis zum nächsten Turnus, und als ich mich niedergelassen habe, nimmt sich eine weitere Frau einen Hocker. Ihr Mann schickt tadelnde Blicke und weist mit einer ruckenden Kopfbewegung auf den Museums-Shop. Sie folgt ihm schulterzuckend.

Um mich nicht länger ablenken zu lassen, schließe ich die Augen. Der Chor singt mir mitten ins Herz. Ich konzentriere mich auf die einzelnen Stimmlagen, filtere die Antwort der Bässe auf den Sopran heraus und staune, was für positive Gefühle die mir fremden Melodien von jetzt auf gleich auslösen. Der ganze Schmodder der letzten Tage verschwindet mal eben. Erst später lese ich, dass die Volkslieder aus Nigeria stammen, noch bin ich komplett eingetaucht. Nur von Ferne höre ich ein Kind fragen: Ist die echt? Ein anderes antwortet: Nee, die gehört dazu, die bewegt sich ja nicht. Die beiden meinen mich. Erschütternd. In meiner Entrücktheit wirke ich museal.

Claudia Ingenhoven