: „Wir glauben an die guten Tage, die noch kommen“
Ibrahim Varli ist Chefredakteur der linken Tageszeitung „BirGün“, die landesweit erscheint. Ein Gespräch über die Zukunft der oppositionellen Medien in der Türkei
Ibrahim Varlı, 44, Journalist und Nahostexperte. Seit 2019 ist er Chefredakteur der Tageszeitung BirGün.
Von Ebru Tasdemir
taz Geno: Herr Varlı, vor genau 18 Jahren erschien die erste Ausgabe der Tageszeitung BirGün, auf deutsch „Eines Tages“. Welchen Stellenwert hat Ihre Zeitung auf dem heutigen türkischen Pressemarkt?
Ibrahim Varlı: BirGün ist die Zeitung der zivilgesellschaftlichen Opposition. Wir sind die Stimme der Frauen, Umweltaktivist*innen, Arbeiter*innen und Student*innen, also von benachteiligten Gruppen und Minoritäten, die in der heutigen Türkei für Ihre Rechte einstehen. Deshalb heißt die Zeitung eigentlich „Die Stimme des Volkes BirGün“. Wir haben eine linke sozialistische Ausrichtung und sind keine Zeitung zum schnöden Angucken, sondern für eine eingehende Zeitungslektüre. Wir publizieren Tatsachen.
Was war der Auslöser für die Gründung von BirGün?
Das Abenteuer begann, als immer mehr Medienformate von großen, staatsnahen Konzernen übernommen wurden und so kaum mehr eine publizistische Plattform bestand, die die Zivilgesellschaft redaktionell in den Vordergrund stellte. Themen wie Friedenspolitik, Arbeitskämpfe und Demokratiebestrebungen konnten nur mühsam und gegen eine solche Übermacht publiziert werden, in einem eigenen unabhängigen Blatt. Es sollte eine Zeitung sein, mit Stimmen, die sonst kein Gehör fanden. Die erste Ausgabe der BirGün erschien dann am 14. April 2004. Eine Handvoll Intellektueller legte aber vor Erscheinen ihr mühsam Erspartes zusammen, um diese Zeitung zu gründen. Sie wurden dabei auch unterstützt von linken Gewerkschaften und Organisationen. Diese Zeitung ist die Zeitung der hart Arbeitenden, des Proletariats, sie sind die Leser*innen dieser Zeitung ohne den Patron, den Chef, der alles leitet. Wir sind ein Kollektivprodukt, deshalb haben wir auch keine Herausgeber. Heute sind wir eine Zeitung, die für eine gerechtere Welt einsteht und sich vor allem dem rechtsliberalen Kurs im Lande stellt.
Wie hat sich BirGün mit den Jahren verändert?
Mittlerweile ist BirGün nicht nur eine Zeitung: wir wachsen vor allem auf den digitalen Plattformen, unter anderem mit unserem youtube-Kanal BirGün TV und haben 40 Mitarbeiter*innen. Um die 10.000 Zeitungen beträgt unsere tägliche Auflage und wir generieren etwa 800.000 Klicks pro Tag auf der Webseite.
In den letzten Jahren war es um die Pressefreiheit in der Türkei besonders schlecht bestellt, dazu kam dann noch die Pandemie. Wie haben Sie als Redaktion diese zusätzlich schwierigen Zeiten erlebt?
Klar, die Pandemie hat ja einiges auf den Kopf gestellt. Uns Medien hat das ebenfalls sehr getroffen. Dazu kommt aber auch die schon seit Jahren bekannte schwierige Situation der konventionellen Medien, die sich mit einer veränderten Zielgruppe und ihren Interessen und neuen Technologien anpassen muss, aber das gilt ja weltweit. Hier in unserem Land kommt aber noch der politische Druck der Regierung und die Zermürbungstaktik hinzu. Mit lauteren und unlauteren Methoden versuchen die Herrschenden, unsere Arbeit zu blockieren. Das Ziel ist es, mit Zensurregelungen und antidemokratischen Gesetzen uns als oppositionelle Medien verstummen zu lassen. Dazu kommt dann aber auch noch der finanzielle Druck wie Strafzahlungen und fehlende Anzeigen aufgrund von Werbeembargos.
Keine rosigen Zukunftsaussichten für die oppositionellen Medien, aber auch speziell für Ihre Zeitung?
Zeitungen wie BirGün leben von der Solidarität ihrer Leser*innen. Weil sie keinem Patron dienen, können sie sich dem Gewinn-oder Verlustdenken besser entziehen. Unsere Zukunft ist wirklich rosig, denn wir glauben an den Widerstand und an die guten Tage, die dann folgen. Die Türkei ist ein Land in der Krise. Und angesichts der hiesigen Presselandschaft wird die Arbeit unserer Zeitung wie auch der der anderen oppositionellen Medien bedeutender. Kein Grund also für Hoffnungslosigkeit und Trübsal, solange es linke Politik und linke Medien gibt.
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