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: „Die tödlichste Grenze der Welt“

Anklage gegen einen sich verschanzenden Norden: Ein neues Buch über die Abschottung der EU stellen seine Au­to­r:in­nen vor

Foto: Anette Hauschild

Lea ReisnerJahrgang 1989, ist Teil des feministischen Autor:innenkollektivs Meuterei. „Grenzenlose Gewalt. Der unerklärte Krieg der EU gegen Flüchtende“ ist bei Assoziation A erschienen (312 S., 18 Euro).

Interview Henrike Notka

taz: Lea Reisner, das Buch ist eine Anklageschrift gegen die EU. Was hat die verbrochen?

Lea Reisner: Die EU ist dafür verantwortlich, dass ihre Außengrenzen die tödlichsten Grenzen der Welt sind. Ihr politisches Handeln führt dazu, dass dort jedes Jahr unglaublich viele Menschen sterben. In diesem Jahr waren es bereits 644 alleine im zentralen Mittelmeer, im vergangenen Jahr 2.048 – also alle sechs Stunden ein Mensch. Das ist ein Verbrechen. Und da nur Fälle dokumentiert sind, die beobachtet werden, ist die Dunkelziffer enorm hoch. Viele Boote verschwinden einfach von der Bildfläche, ohne dass jemand von ihnen weiß.

Was hat politisch dazu geführt?

Die europäischen Staaten haben sich geweigert, Italien Ende 2014 dabei zu unterstützen, eine tatsächliche Seenotrettung im zentralen Mittelmeer zu finanzieren. Dort gibt es mittlerweile keine einzige staatliche Rettungsoperation mehr, sondern ausschließlich Luftüberwachung. Die dient dazu, tunesischen und libyschen Behörden die Standorte der Boote mitzuteilen, damit sie die Menschen zurück auf den afrikanischen Kontinent in Folterlager bringen können. Die EU selbst dürfte das mit eigenen Schiffen nicht und lässt andere ihre Drecksarbeit machen.

Warum verschanzt sich der Globale Norden derart?

Der strukturelle Rassismus ist sicherlich ein Grund, aber auch die neokoloniale Tendenz seiner Politik: Die sorgt erst dafür, dass Menschen fliehen müssen. Zum Beispiel wurden zwischen dem Niger und Mali Grenzzäune gezogen, wodurch die Äcker zu militärischen Sperrzonen wurden. Der Norden verschließt vor den Konsequenzen seines Handelns die Augen, und wenn die Menschen dann nach Europa fliehen, irritiert das diejenigen, die den Status quo aufrechterhalten wollen.

Wie passt Frontex in dieses Bild?

Frontex ist eine Grenzschutzbehörde, deren Ziel nicht der Schutz von Menschen ist, sondern der Schutz von Grenzen – und das halte ich für grundfalsch. Wir haben das Problem, dass sich über die letzten Jahre das rechts-konservative Narrativ sehr in die Mitte der Gesellschaft verschoben hat. Als Beatrix von Storch …

Lesung: Mo, 9. 5., 19.30 Uhr, Hamburg, Fabrique im Gängeviertel;

Di, 31. 5., 15 Uhr, Neu-Darchau/Wendland

… von der AfD …

… 2015 getwittert hat, dass auf Geflüchtete an den Grenzen geschossen werden soll, erntete sie einen Shitstorm. Seit 2021 wird geschossen und es gibt quasi keine Reaktion darauf – EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen ist nach Griechenland gefahren und hat sich für den guten Grenzschutz bedankt. Wir müssen anfangen, Migration als Chance zu begreifen. Es gab sie schon immer und hat nachweislich nur Vorteile für Gesellschaften.

Und was könnte je­de*r Einzelne tun?

Damit beginnen, sich mit den eigenen internalisierten Rassismen auseinanderzusetzen – die haben wir alle, auch ich. Dann würden wir irgendwann aufhören, Menschen, die anders aussehen oder eine andere Religion haben, als Fein­d*in­nen zu sehen.