Sauber ist nicht rein

VON KENO VERSECK

Gelänge es, die Sonne im Kleinen nachzubauen, besäße die Menschheit eine nahezu unerschöpfliche und saubere Energiequelle. Der Rohstoff wäre Meerwasser. Es gäbe keine Luftverschmutzung, es würden keine Treibhausgase freigesetzt, und es entstünde nur minimaler radioaktiver Abfall. So zumindest sehen es nicht nur die Idylliker unter den Forschern, sondern auch die sechs Partner des Iter-Projekts, die sich gestern nach jahrelangem Streit für Südfrankreich als Standort entschieden haben, die Sonne versuchsweise nachzubauen (siehe Text unten).

Gemeint ist das Projekt Kernfusionsreaktor und die Verschmelzung von Atomkernen – ein Prozess, bei dem ungeheure Mengen Energie frei werden. Ein Gramm Fusionsbrennstoff, so rechnen die Enthusiasten schwärmerisch vor, ergäbe so viel Energie wie die Verbrennung von elf Tonnen Kohle.

Der Traum der Forscher vom Sonnenfeuer auf der Erde ist fast so alt wie moderne Physik seit Albert Einstein. Doch selbst optimistische Forscher schätzen, dass es noch mindestens ein halbes Jahrhundert dauern könnte, bis der erste kommerzielle Fusionsreaktor Strom liefert. Seine Technik wäre eine der kompliziertesten Ingenieurleistungen, die die Menschheit hervorgebracht hat.

Bei einer Fusionsreaktion, wie sie in dem internationalen Experimentalreaktor Iter ablaufen soll, verschmelzen die Kerne von Deuterium und Tritium, zwei Varianten eines Wasserstoffatoms (siehe Grafik). Um die Verschmelzung zu erreichen, bedarf es jedoch einer Temperatur von 100 Millionen Grad. Da kein Material dieser Temperatur standhält, wird der Brennstoff . das Plasma genannte Gas aus Deuterium- und Tritiumkernen – mit Hilfe extrem starker Magnetfelder in einer Vakuumkammer gewissermaßen in der Schwebe gehalten. Bei der Fusion entsteht das Element Helium und ein Strom heißer Neutronen. Die Energie dieser Neutronen wird durch spezielle Wärmeaustauscher „extrahiert“ und zur Erzeugung von Strom genutzt.

Das Problematische: Es ist zwar technisch längst möglich, eine Fusionsreaktion in Gang zu bringen, doch die Energie, die dafür aufgewendet werden muss, ist höher als die spätere Energieausbeute. Beim bisher erfolgreichsten Experiment gelang es Forschern vor sieben Jahren, am Joint European Torus (JET), einem Versuchsreaktor in England, für knapp zwei Sekunden eine Kernfusion aufrechtzuerhalten. Sie erhielten dabei nur rund 65 Prozent der Energie zurück, die sie „investiert“ hatten. Das Ziel der Forscher von Iter ist demgegenüber hochgesteckt: Sie wollen einen Energiegewinnungsfaktor von mindestens eins zu zehn erreichen.

Dafür aber müssen sie erst eine Lösung finden, um das künstliche Sonnenfeuer über einen längeren Zeitraum zum Brennen zu bringen. Bisher gelang es nicht, die Fusionstemperatur von 100 Millionen Grad im Plasma konstant zu halten. Die Folge: Die Fusion erlosch fast sofort nach ihrer „Zündung“ wieder. Theoretische physikalische Lösungen für das Problem zeichnen sich erst im Ansatz ab, ihre technische Realisierung dürfte Jahre bis Jahrzehnte in Anspruch nehmen. Manche Physiker zweifeln immer noch daran, dass es überhaupt gelingt, eine konstante Fusion zu erzeugen.

Das sind nicht die einzigen Kontroversen, die seit Jahren um die Kernfusion geführt werden. Kritiker halten den Fusionsenthusiasten vor, dass die Technologie längst nicht so sauber sei wie von ihnen propagiert. Bei der Fusion entsteht zwar kein radioaktiver Müll, der über Jahrtausende gelagert werden müsste, doch das Material der Vakuumkammer, in der die Fusion stattfindet – bisher wurde Spezialstahl benutzt –, wird bei längerer Reaktionszeit zerstört und zudem verstrahlt. Die Konstrukteure des Iter stehen nun vor dem Problem, effizientere Stahllegierungen für die Brennkammer zu entwickeln. Umstritten ist unter Experten auch, wie lange die Halbwertszeit des verstrahlten Materials ist. Befürworter der Technologie sprechen von nur wenigen Jahrzehnten. Sie wollen außerdem Recyclingmethoden entwickeln, damit Brennkammern wiederverwendet werden können.

In einem immerhin sind sich beide Lager weitgehend einig: Bis die unerschöpfliche Energiequelle der Zukunft auch tatsächlich ans Netz geht, werden noch so viele Jahrzehnte vergehen, dass in der Zwischenzeit eine andere Technologie Priorität haben sollte – die des Energiesparens.