„Die Angst des Großinquisitors“

Bischof i. R. Gerhard Ulrich spielt in „Don Karlos“ einen Theologen, der ihn an den Patriarchen Kyrill denken lässt

Foto: privat

Gerhard Ulrich

71, Theologe, 2008 bis 2013 Bischof von Schleswig und Holstein, danach bis 2018 von der fusionierten Nordkirche.

Interview Lenard Brar M. Rojas

taz: Herr Ulrich, ein evangelischer Bischof als brutaler Großinquisitor: Wie kam es zu dieser Konstellation?

Gerhard Ulrich: Ich habe als Bischof bereits mit dem Theater in Kiel zusammengearbeitet. Daher kannten wir uns. Der Regisseur Malte Kreutzfeldt hatte die Idee, dass den Großinquisitor jemand darstellen sollte, der von außen kommt. Es war eine Anfrage des Theaters an mich.

Was interessiert Sie an dieser Figur?

Für jeden ist es eine große Herausforderung eine Figur näher kennenzulernen, die in ihren Handlungen und Weltbildern ganz anders disponiert ist als man selbst. Mich reizt als Theologe an dieser Figur deren menschenverachtende Haltung. Was ist das für ein Mensch, der sein Handeln mit dem Evangelium begründet und dieses für die Rechtfertigung eines Mordes missbraucht? Was für emotionelle und kulturelle Tiefen tun sich dort auf?

Was macht den Stoff heute noch aktuell?

Angesichts der Kriegsverbrechen in der Ukraine muss man nicht viel Aktualisierung betreiben. Die kleine Szene mit dem Großinquisitor zeigt, was passiert, wenn Menschen absolute Macht beanspruchen und diesen Anspruch geistlich begründen. Ich denke zum Beispiel an den russischen Patriarchen Kyrill, der Präsident Putin mit Predigten in seinem kriegerischen Treiben unterstützt. Das ist das Thema von „Don Karlos“: Die Unterdrückung der Freiheit der Einzelnen, die aus der Angst vor Freiheit und Demokratie wächst. Das ist die Angst des Großinquisitors, seine Macht zu verlieren.

Sie haben Theaterwissenschaften und Theologie studiert. Welche Gemeinsamkeit bestehen zwischen Kirche und Theater?

Friedrich von Schiller: „Don Karlos“, Premiere Sa, 23. 4., 20 Uhr, Kiel, Schauspielhaus

Bertolt Brecht hat gesagt: „Die heutige Welt ist den Menschen nur beschreibbar, wenn sie als eine veränderbare Welt beschrieben wird, weil sie eine Veränderung braucht.“ Das ist der Anspruch, die Welt mit ihrer eigenen Realität zu konfrontieren und so zu einer Veränderung zu gelangen. Für mich war diese Aussage eine große, auch geistliche und theologische Entdeckung. Das ist eigentlich ein theologischer Satz von Brecht, und das ist ein gemeinsames Anliegen von Theater und Kirche. Das Anliegen der Theologie ist, die Realität der Welt zur Sprache zu bringen und sie mit den biblischen Verheißungen des Friedens zu konfrontieren. Das Theater tut das mit eignen Mitteln.

Sie haben Theaterpredigten gehalten. Wie kann man sich das vorstellen?

Das ist ein Format, das ich im Wesentlichen selbst entwickelt habe. Als ich in Schwerin meinen Bischofssitz hatte, wandte ich mich an das mecklenburgischen Staatstheater und sagte: „Ich würde gerne Theaterstücke aus der aktuellen Spielzeit theologisch kommentieren.“ Dann bin ich bei diesen Szenen auf die Bühne gegangen und habe dort gepredigt, das Inszenierte theologisch gedeutet, nicht als Eingriff in die Inszenierung, sondern als zusätzliche Möglichkeit, sich mit der Inszenierung auseinanderzusetzen.