kritisch gesehen: Eine finstere, offene Welt
Die Sitten sind verlottert, das Volk hurt herum. Die Präsidentin ist unzufrieden. War sie zu weich? Sie überlässt dem strengen Angelo die Regierungsgeschäfte, der gleich durchgreift. Claudio, der seine Verlobte geschwängert hat, verurteilt er wegen Unzucht zum Tode, das Gesetz im Rücken.
Das ist Ausgangspunkt von William Shakespeares dunkler Komödie „Maß für Maß“. Stefan Otteni, der bei der Bremer Shakespeare Company schon „King Charles III.“ und „Angela I.“ auf die Bühne brachte, zeigt „Maß für Maß“ als schwarzhumorige Meditation über gelingende Herrschaft und das Verhältnis von Recht und Gerechtigkeit. Die Präsidentin, hier anders als bei Shakespeare weiblich, belässt es nicht dabei, Angelo machen zu lassen: Sie mischt sich als Nonne unters Volk, um den Fortgang der Sache zu begutachten. Und weil sich Angelo nach allen Regeln der Good Governance blamiert, greift sie schließlich durch.
Shakespeare wirft dabei durchaus unerledigte Fragen auf. Seine Komödie ist fest im Übergang zum Absolutismus verortet. Damit steht sie aber eben auch am Beginn des modernen Staats, der sich schließlich zugute hält, endlich allen Menschen gerecht werden zu wollen. Und natürlich darf man hier auch an #Metoo denken. Die Inszenierung selbst wird da übrigens nicht gar zu spezifisch. Sie liefert zwar ein paar kleine Verweise auf die aktuelle Lage, lässt sich ansonsten aber von Putin und Co. nicht zum Zeigefingerwedeln verleiten.
Heike Neugebauers Bühnenbild ist eine finstere, glücklicherweise aber auch offene Welt. Für die privateren Momente stehen zwei mobile Kämmerlein zur Verfügung. Der Rest ist Verhandlungsfläche für die gesellschaftlichen Fragen. Michael Meyer ist ein furioser Angelo, aus dem die Geilheit nur so platzt, Sofie Alice Millers Isabella trägt ihre Zerrissenheit zwischen Moral und Mitgefühl innigst vor. Auch Simon Elias als todgeweihter Claudio, Kathrin Steinweg als Angelos düpierte Ex, Tim Lee als durchtriebener Lucio, Petra-Janina Schulz als schillernde Präsidentin und Peter Lüchinger als staubtrockener Escalus liefern prägnante Rollenstudien, während Thomas Kriszan als Musiker mit Akkordeon meist mittenmang ist. Das Ensemble wirkt wie aus einem Guss, vielleicht, weil es unter der Leitung von Ekkehard Lampe-Steinhage Lieder aus Shakespeares Zeiten einstudiert hat, die für Publikum und Schauspieler*innen immer wieder ein wenig Transzendenz in den blutigen Alltag bringen. Die Schlusspointe des Abends übrigens hätte sich Shakespeare nicht schöner ausdenken können. Aber das schauen Sie sich vielleicht lieber selbst an. Andreas Schnell
„Maß für Maß“: Bremer Shakespeare Company, Theater am Leibnziplatz. Nächste Vorstellungen: am 21. 4. sowie am 6. und 27. 5., jeweils 19.30 Uhr
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