Die Vermessung der Welt

Der Geograf Christian Grataloup zeigt in „Die Erfindung der Kontinente“, dass Landkarten nicht nur zeigen, was ist. Sie spiegeln tief eingefräste Weltbilder wider

Von Stefan Reinecke

Die Welt besteht aus Kontinenten. Das ist eine allgemein akzeptierte Tatsache. Die schematisierten Bilder des Globus in den TV-Nachrichten bestätigen sie jeden Abend. Folgt man dem französischen Geografiehistoriker Christian Grataloup, so sind Landkarten und Kontinente noch etwas anderes: Sie sind historisch gewachsene Codes und oft ideologisch verkrümmte Projektionen. Karten sind Texte, die nach Interessen, Erkenntnissen, Weltanschauungen geformt worden sind.

Bekanntlich wurde die Aufteilung der Welt in Kontinente in den letzten Jahrhunderten in Europa erfunden. Dabei ist gerade Europa eine Region, die die Idee dementiert, dass Kontinente objektive geografische Tatsachen sind. Geografisch ist Europa eher eine Halbinsel am Rand Asiens. Die Grenze zwischen Europa und Asien am Bosporus zu ziehen, einer Meerenge, die so ist breit wie die Donau, hat mit Geografie wenig zu tun. Dafür um so mehr mit den historischen Konflikten zwischen Christentum und Islam.

Auch die Neigung, Europa am Ural enden zu lassen, ist keine geografisch einleuchtende Markierung, sondern eine historische Konvention. Der französische Aufklärer Diderot macht diese Idee im 18. Jahrhundert populär. Die exakte Geografie jenseits des Urals kannte man damals nicht so genau. Russland strebt unter Katharina der Großen nach Westen, und die Zarin half Diderot aus einer finanziellen Klemme. Seitdem lernen Schulkinder in Europa, dass Europa am Ural endet. Das ist nur eins von vielen Beispielen, bei denen historische Recherchen scheinbare geografische Eindeutigkeiten in Schwingung versetzen.

Grataloup entfaltet einen kundigen Rundgang durch die Geschichte der Kartografhie. Der Wille, mit Symbolen seine Umwelt abzubilden, erscheint als eine conditio humuna. Schon vor 3.000 Jahren ritzten Menschen in den südlichen Alpen einen präzisen Katasterplan ihres Tales, mit Feldern und Parzellen, in einen Stein, bekannt geworden als „Mappa di Bedolina“. Die mittelalterlichen Karten und Weltbilder waren von der biblischen Idee beseelt, dass es, analog zu drei Söhnen ­Noahs, drei zentrale Regionen geben musste: Europa, Asien und Afrika.

Die religiöse Vorstellung einer dreigeteilten Welt hielt sich auch im Zeitalter der Entdeckungen im 16. Jahrhundert recht zäh. Die sakralen mittelalterlichen Karten wurden nicht einfach durch wissenschaftliche, objektive ersetzt. Mythologie und Aufklärung sind keine schroff entgegengesetzten Konzepte, sondern unterirdisch miteinander vernetzt. Grataloup zeigt einprägsam, dass Asien, Europa und Afrika für objektive und eindeutige Bezeichnungen zu halten ein positivistischer Irrtum ist, der die fiktionalen Anteile der Begriffe wegradiert.

Unsere Vorstellungen vom Raum sind nicht neutral. Sie sind ein Ensemble von machtgelenkten und sich verändernden Ideen. Das ist nicht banal. Die britische Geografin Doreen Massey urteilte 1993: „Die Zeit schreitet voran, während der Raum herumlungert.“ Die Zeit, so Masseys Kritik, galt als zentrale Kategorie, um Wandel und Veränderung zu erfassen, der Raum war nur Bühne. Kritische WissenschaftlerInnen wie David Harvey und Grataloup haben mit dem sogenannten spatial turn gezeigt, dass Raumvorstellungen mehr sind als die Hintergrundbeleuchtung historischer Prozesse.

Und heute? Was als selbstverständlich galt, ist als Machtkonstruktion entzifferbar geworden. Die postkoloniale Entrümpelung unseres Weltbildes hat den Eurozentrismus in Anführungszeichen gesetzt. Doch unsere Raumvorstellungen sind noch immer von tief eingefrästen Bildern geprägt. Die kritische Geografie beeinflusst zwar universitäre Diskurse. Wirkung auf die populäre Kultur hat sie nicht.

Auf der Höhe der Zeit und der Selbstaufklärung wäre eine Weltkarte, die, so Grataloup „nicht den Eindruck erweckt, natürlichen Ursprungs zu sein, und immer wieder an die historische Bedingtheit jeder Einteilung erinnert“. Kurzum – die ihren eigene Konstruktion sichtbar macht. Doch alle Versuche, diese Erkenntnis praktisch umzusetzen, waren „vergebliche Liebesmüh“. Offenbar benötigen wir feste Kategorien und Bilder, um nicht den Überblick zu verlieren. Das gilt in der komplexen, global vernetzten Welt, in der das Territoriale sowieso fraglich wird, noch mehr. Wir ordnen die Welt in übersichtliche Schemata wie Kontinente. Im Alltag mit einer historisch reflexiven Karte zu hantieren überfordert uns. Das ist die Grenze der Ideologiekritik.

„Die Erfindung der Kontinente“ ist eine Art Gesamtkunstwerk. Der Text bringt die reichhaltigen Illustrationen, frühe Karten und Kirchenmalereien, Satellitenbilder der Erde und präkolumbianische Kalender, zum Sprechen. Der Text kontextualisiert die Bilder, die Bilder veranschaulichen die Theorie. „Die Erfindung der Kontinente“ ist eines des schönsten Sachbücher des letzten Jahres.

Grataloup, Christian:„Die Erfindung der Kontinente. Eine Geschichte der Darstellung der Welt“. Aus dem Franz. v. Andrea Debbou. wbg Theiss, Darmstadt 2021, 256 S., 140 Abb., 80 Euro