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Emanzipation und Verfolgung

Shulamit Volkov betrachtet die deutsche Geschichte aus jüdischer Sicht, aus der sich einige Gewissheiten anders darstellen

Shulamit Volkov: „Deutschland aus jüdischer Sicht. Eine andere Geschichte vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart“. Aus dem Englischen von Ulla Höber. C. H. Beck, München 2022, 336 Seiten, 28 Euro

Von Micha Brumlik

Das vergangene Jahr 2021 war dem Gedenken an 1.700 Jahre jüdischen Lebens auf dem Gebiet, das als „Deutschland“ bezeichnet wird, gewidmet. Über diesem Gedenken ist die jüngere Geschichte der Juden in Deutschland – eine Geschichte, in der es keineswegs nur um die Leiden von Jüdinnen und Juden in der NS-Zeit geht – etwas in den Hintergrund getreten.

Diese Lücke wird jetzt durch eine ebenso klar erzählte wie informative Studie kompensiert, die die renommierte israelische Historikerin Shulamith Volkov vorgelegt hat. Volkov lehrte vergleichende europäische Geschichte an der Universität Tel Aviv. Mit ihrem von Ulla Höber luzide aus dem Englischen übersetzten Buch „Deutschland aus jüdischer Sicht. Eine andere Geschichte vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart“ geht sie den näheren gesellschaftlichen Ursachen des nationalsozialistischen Judenhasses ebenso nach wie der zentralen Rolle des – vor allem liberalen – Judentums für die Modernisierung Deutschlands.

Volkov hat ihre Darstellung übersichtlich in vier Kapitel und einen Epilog aufgeteilt. Eine Gliederung, die sich zunächst mit der Aufklärungszeit, sodann mit den Jahren der „Einheit und Freiheit 1840–1870“ befasst, um schließlich jüdisches Leben in Deutschland zwischen 1870 und 1930 zu behandeln und sich endlich unter der Überschrift „Eine verlorene Heimat“ den Jahren 1930–2000 zuzuwenden. Dabei räumt Volkov freimütig ein, die Geschichte der deutschen Juden in der NS-Zeit nicht angemessen behandeln zu können.

Auf jeden Fall stellt sie nicht umsonst die von Horkheimer und Adorno thematisierte „Dialektik der Aufklärung“ ins Zentrum, indem sie nachweist, wie selbstwidersprüchlich die immer wieder rückgängig gemachte Politik der bürgerlichen Emanzipation jüdischer Männer in den deutschsprachigen Staaten des späten Absolutismus war.

Vor allem aber war die sonst so viel gerühmte Revolution von 1848 einschließlich des Paulskirchenparlamentes mit Blick auf die in den deutschen Ländern lebenden Juden keineswegs so progressiv, wie immer wieder geglaubt. Erlebten doch die deutschen Länder in jenen 1840er Jahren judenfeindliche Aufstände nicht nur im Elsass, sondern im ganzen deutschen Südwesten, denn – so Volkov: „Die Stimmung dieser Tage war aggressiv antisemitisch. Als erster Akt einer aufgeklärten, liberalen Revolution war dieser Beginn nicht gerade vielversprechend, noch weniger waren es die Manifestationen antijüdischer Ressentiments in den Städten.“

Als wichtige Ursache identifiziert Volkov treffend den durch die Liberalisierung der Wirtschaft bewirkten Niedergang des alten, zunft- und innungsmäßig organisierten Handwerks, zu dem Juden bekanntlich keinen Zugang hatten. So verbreitete eine Gruppe von Handwerksmeistern damals einen Brief, in dem die Juden, als „… Fremdlinge, die nirgends heimisch sind und kein Herz für das Volk haben, wo sie wohnen“ bezeichnet wurden.

Tatsächlich profitierten die Juden – Angehörige einer das Lernen ins Zentrum stellenden Religion – von der allgemeinen Generalisierung und Modernisierung des Bildungswesens in den deutschen Ländern, sodass sie bald immer mehr Positionen in den akademisch geprägten freien Berufen wie Medizin, dem Rechtswesen, der Publizistik sowie der Wissenschaft einnahmen. Unter anderem deshalb, weil ihnen beinahe überall vor 1919 die Wahrnehmung von Beamtenstellen versagt war, sodass sie notgedrungen überproportional in den freien Berufen tätig waren – was wiederum all jene, die gegen die allgemeine Modernisierung waren, zu Antisemiten machte.

Antisemitismus und Ressentiment gegen eine liberale Gesellschaft entpuppten sich in den deutschen Ländern somit als zwei Seiten einer Medaille. Und das, obwohl deutsche Handwerker kaum je mit jüdischer Konkurrenz konfrontiert waren.

Die Revolution von 1848 war mit Blick auf die Juden keines-wegs so progressiv

Volkov gelingt es nicht nur, die Dialektik der Emanzipation zu entfalten, sondern auch, die Beiträge von Jüdinnen und Juden zur modernen deutschen Kultur prägnant nachzuzeichnen: von den Salons jüdischer Frauen im 19. Jahrhundert bis zu Historikern und Romanciers wie Leopold Zunz und Heinrich Graetz sowie Jacob Wassermann und Stefan Zweig.

Volkov verfolgt die Geschichte der Juden im Westen Deutschlands bis beinahe in die Gegenwart: bis zur Kontroverse um Rainer Werner Fassbinders Stück „Die Stadt, der Müll und der Tod“ und der zentralen Rolle, die Ignatz Bubis darin spielte.

Indes: Einer weiteren Auflage des Buches wäre zu wünschen, dass Volkov sich in einem Abschnitt auch der kleinen jüdischen Gemeinschaft in der DDR sowie der Rolle der nach dem Krieg zurückgekehrten, oft genug angefeindeten jüdischen KommunistInnen annähme.

Abgesehen davon liegt mit „Deutschland aus jüdischer Sicht“ eine bestens lesbare, ungemein informative Darstellung der jüngeren deutsch-jüdischen Geschichte vor: der Geschichte einer Minderheit, die zugleich ein wesentlicher Teil deutscher Gesellschaftsgeschichte ist.

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