Auf Achse mit Flügel

Weglaufen zu sich selbst: Die Pianistin Juliane Sailer verreist mit ihrem Flügel, weil sie ein neues Ziel sucht

„Wenn Reisen mit Weglaufen zu tun hat, dann ist es ein Weglaufen zu sich selbst“, sagt Juliane Sailer. Am Montag hat sie ihre Reise angetreten, von Berlin aus in Richtung Süden, über die Alpen bis nach Italien, dann Frankreich, Spanien und Portugal. Zwei Monate lang wird die Pianistin mit einem Lkw unterwegs sein, das wichtigste Reiseutensil: ein Flügel auf der Ladefläche.

Seit ihrem vierten Lebensjahr spielt Sailer Klavier. Es folgten Musikschule und -studium; den Aufbaustudiengang Liedbegleitung hat sie abgebrochen. Sie habe sich eingestehen müssen, dass sie das eigentlich gar nicht wolle, dass sie ihr Ziel neu definieren müsse, sagt Sailer. Nach kurzer Pause habe sie sich darauf konzentriert, was sie am liebsten mag: improvisieren.

Vier Jahre sind vergangen, ihre Technik habe sie in dieser Zeit immer weiter entwickelt. Improvisation ist für Sailer eine Art „innerer Reise“ und einer der Grundgedanken ihres Experiments, das sie mit ähnlich denkenden Künstlern zusammenbringen wird: in Rom mit dem Komponisten, Pianisten und Sänger Marion Sollazzo, in Marseille mit dem Cellisten Augustin Maurs, in Sevilla mit Flamencotänzer Miguel Vargas und in Lissabon mit Saxofonist Nuno Torres. Zurück in Berlin, wird sie am 8. Oktober ein Abschlusskonzert in der Passionskirche geben, bis dahin führt Sailer Onlinetagebuch (www.reise-mit-fluegel.de).

Zusätzlich zu den geplanten Treffen will sie stets dann Halt machen und spontan musizieren, wenn ihr danach ist. Da der Flügel ja auf der Ladefläche bereitsteht, muss sie nur die Plane zurückschieben, und los geht’s: auf Marktplätzen, Uferpromenaden oder an Straßenecken. „Ich glaube, dass die Idee, in Konzerte zu gehen, gerade stirbt“, meint Sailer. All das sei zu reglementiert und elitär: „Ich will die Musik zu den Menschen bringen.“

Nach dem Eröffnungskonzert in der Heilig-Kreuz-Kirche am Sonntag setzte sie sich denn auch an ihren Flügel auf der Ladefläche und klimperte fröhlich deutsches Liedgut von „Das Wandern ist des Müllers Lust“ bis „Ade zur guten Nacht“, ihre Zuhörer trällerten ebenso fröhlich mit.

Alle, bis auf die beiden kurz geschorenen Gesellen mit Bierflaschen, die nur grölen konnten. Wie Sailer da auf dem Lkw stand mit ihrem dunkelroten bodenlangen und schulterfreien Kleid, muss sie die Jungs schwer beeindruckt haben. Obwohl die Pianistin sich weigerte, ihnen ihre Telefonnummer zu geben, zogen sie friedlich von dannen.

KARSTEN SCHÜLE