DIE EM AUS TSCHECHISCHER SICHT
: Wir sind an der Reihe!

FILIP NERAD

In der Tschechischen Republik folgt ein Sportfieber dem nächsten. Noch während die Fans im Mai ihren Eishockeyspielern bei der WM in Schweden und Finnland die Daumen drückten, wandten sie den Blick der EM in Polen und der Ukraine zu: Für die Tschechen ist Fußball neben Eishockey der beliebteste Teamsport, auch wenn Tschechien bzw. früher die Tschechoslowakei im Fußball viel weniger internationale Erfolge als im Eishockey feiern konnte.

Der Sieg der tschechoslowakischen Nationalmannschaft im Finale der Fußball-EM 1976 in Belgrad über Beckenbauer, Hoeneß & Co. gehört allerdings zu den besten Momenten unserer Sportgeschichte, an den spätere Fußballgenerationen anzuknüpfen versuchten – bisher leider vergeblich. Am nächsten dran war die tschechische Nationalelf in England 1996, wo sie erst im Finale von Klinsmann und Bierhoff gestoppt wurde. Wenn sich die Tschechen und die Deutschen auch dieses Jahr im Finale treffen, sollten also rein theoretisch wieder wir an der Reihe sein.

Aber um ehrlich zu sein: Die tschechische Fußballnationalmannschaft gehört nicht zu den Favoriten der EM – was auf der anderen Seite eine Rolle ist, die ihr immer passte. Aus der Position des Außenseiters schafften die tschechischen Fußballer schon mehrmals eine Überraschung. Das wollen sie nun auch in der K.-o.-Runde versuchen.

Das tschechische Team hat ein paar herausragende Spieler, etwa Kapitän Tomas Rosicky und Torhüter Petr Cech, die die treibenden Kräfte der Mannschaft und vielleicht auch die tschechischen Stars des Turniers sein könnten. Sie allein aber können kein Spiel gewinnen. Die tschechischen Erfolge basierten immer auf einer kollektiven Leistung, die unsere Mannschaft in den letzten Jahren aber nicht immer zeigte. Zudem gab es außerhalb des Platzes einige Auseinandersetzungen – zuletzt, als einige Spieler einen ehemaligen Nationalspieler, der ihr Spiel kritisiert hatte, öffentlich vulgär beleidigten. Die Fußballer wurden vom tschechischen Fußballbund dazu verurteilt, 2 Millionen Kronen (80.000 Euro) Geldstrafe zahlen.

Obwohl die Tschechen gegenüber ihrem Team sehr kritisch sind – was schon fast Tradition ist –werden Tausende von ihnen bei der EM sein, weil die Gruppenspiele nicht weit von Tschechien in Breslau stattfinden. Der Rest der tschechischen Sportnation wird vor den Fernsehschirmen entweder in Kneipen oder zu Hause sitzen und die Daumen drücken. Zu Letzteren gehöre auch ich – ein nicht sonderlich talentierter ehemaliger Abwehrspieler der Fußball-Jugendauswahl meiner Heimatstadt. Mit anderen tschechischen Fans werde ich davon träumen, dass sich Belgrad 1976 wiederholt.

■ Filip Nerad ist Korrespondent der tschechichen Presseagentur CTK