Schlaue Tiere

Foto: Milena Schlösser

Karsten Brensing

ist Meeresbiologe, Verhaltensforscher und Buchautor. In seiner Freizeit taucht und segelt er.

Von Julia Weinzierler
(Text) und Eléonore Roedel (Ilustrationen)

„Bitte vermenschlicht die Tiere!“

Auch Tiere denken. Und das gar nicht so sehr anders als Menschen. Der Verhaltensbiologe Karsten Brensing plädiert dafür, unseren Blick auf Tiere zu überdenken

Interview Julia Weinzierler

taz am wochenende: Herr Brensing, es ist noch nicht lange her, da hieß es: Tiere können nicht denken, sondern sind instinktgesteuert.

Karsten Brensing: Die Philosophen haben früher gerne zwischen dem rationalen Menschen und dem instinktgesteuerten Tier unterschieden. Auch in der Psychologie hieß es lange: Alles, was unterbewusst passiert, ist instinktgesteuert. Aber im Prinzip war der Begriff „Instinkt“ nur ein Label für etwas, was man nicht verstanden hat. Man hat jahrzehntelang vergeblich versucht, ihn zu belegen. Deswegen sagt die Verhaltensbiologie heute: Es gibt keinen Instinkt. Die eigentliche Frage ist, was Verhalten steuert. Es sind zwei Mechanismen, die wir gut kennen: Denken und Fühlen. Und jedes Tier mit einem einigermaßen entwickelten Nervensystem kann beides.

Wenn ein Tier denkt, wie kann man sich das vorstellen?

Für die meisten Menschen ist das Denken etwas, was scheinbar kein anderer tut. Nun ist es aber so, dass in der Wissenschaft Denken graduell betrachtet wird. Es sind bestimmte Funktionen und Prozesse in unserem Nervensystem. Die einfachste Form ist die Objektpermanenz.

Das bedeutet?

Wenn eine Katze einer Maus hinterherflitzt und die verschwindet hinter einem Baum, dann weiß die Katze genau: Die Maus muss noch da sein. Sie hat ein Objekt permanent im Kopf und kann mit diesem Gedanken etwas anfangen. Beim Pantoffeltierchen ist das anders. Wenn es auf eine Bakterie trifft, der es gelingt wegzukommen, ist es für das Pantoffeltierchen so, als hätte es die Bakterie nie gegeben.

Pantoffeltierchen denken also nicht, Katzen aber schon. Was wären kompliziertere Formen des Denkens?

Der nächste Schritt wäre die Kategoriebildung. Wenn man einem Menschen Gemälde von Picasso und Miró vorlegt, kann er sie auch ohne Kunstverstand in zwei Stapel sortieren. Eine beachtliche Leistung, aber Bienen können das auch. Ganz praktische Kategorien sind zum Beispiel: Alles, was auf mich zu rennt, will mich fressen, also haue ich lieber ab. Und alles, was vor mir wegrennt, ist Nahrung.

Das klingt, als wäre Denken ein sehr alter Prozess.

Schon lange vor dem Menschen hat es das Denken gegeben.

Ist die Unterscheidung zwischen Tier und Mensch daher obsolet?

Menschen passieren einen Test auf logisches Denken, manche Tiere passieren den gleichen Test. Wenn Tiere das auch können, dann denken und verarbeiten sie in dem Moment genauso wie wir. Das ist logisch, oder? Daher sage ich: Bitte vermenschlicht die Tiere! Es gibt keinen Grund, es nicht zu tun, wenn sie die gleichen Tests bestehen. Wir sind ja Tiere, evolutiv haben wir uns zusammen entwickelt. Es ist völlig absurd, zu glauben, dass es irgendwie anders ist.

Aber irgendeinen Unterschied muss es doch geben?

Viele Menschen glauben, dass nur wir Menschen eine Psyche haben, traurig oder glücklich sein können. Aber die ganze Psychopharmakaforschung arbeitet mit Tierexperimenten. Die getesteten Medikamente wirken bei uns, weil wir genauso gebaut sind. Natürlich gibt es auch komplexere Formen des Denkens. Aber fast alle Prozesse, die wir in unserem Alltag an den Tag legen, managen wir mit unserem tierischen Gehirn.

Welche Prozesse sind das zum Beispiel?

Da sind Steuermechanismen, die dafür sorgen, dass wir den einen Kollegen mehr mögen als den anderen. Wir zählen genauso wie Tiere soziale Leistung. Wenn einer besonders nett zu uns war, werden wir soziale Gegenleistungen erbringen. Wir wissen beispielsweise auch, dass Tiere nicht nur im Hier und Jetzt leben. Alzheimerforschung macht man schließlich auch mit Mäusen. Das würde nicht funktionieren, wenn sie keine Biografie hätten.

Was wäre denn eine hohe Form des Denkens bei Tieren?

Über sich selbst nachzudenken, wie wir Menschen es können, ist kognitiv tatsächlich eine komplexe Geschichte. Da geht es darum, zwischen verschiedenen Möglichkeiten abzuwägen, „Difficult Choice“ heißt das. Das wurde bei Ratten getestet. Man hat ihnen beigebracht, die Länge von Tönen zu unterscheiden, das können sie in etwa so gut wie wir. Wenn sich Töne aber nur um zwei Sekunden unterscheiden, wird es schwierig.

Und wie wurde das getestet?

Die Ratten hatten drei Optionen: Wenn sie am Experiment teilnehmen und richtig liegen, gibt es eine fette Belohnung in Form von Schokoplätzchen. Sonst gehen sie leer aus. Oder sie nehmen nicht teil und kriegen eine kleine Entschädigung, ein Pellet. Und tatsächlich: In dem Moment, in dem sich die Ratten nicht mehr sicher entscheiden konnten, haben sie nicht am Experiment teilgenommen. Sie haben über sich selbst nachgedacht, haben überlegt. Mittlerweile haben wir das auch an anderen Tieren getestet.

Mit der Größe des Gehirns hat das aber nichts zu tun?

Nein. Säugetiere wie wir Menschen denken nur an der Oberfläche des Gehirns. Deswegen haben wir ein gefaltetes Gehirn und sonst viel Knautschmasse, die gar nicht denkt. Vögel denken mit ihrem ganzen Gehirn, dadurch kann es auch kleiner sein. Je komplexer ein Gehirn aufgebaut ist, desto komplexer sind auch die Denkprozesse.

Was wäre ein Beispiel für komplexe Denkprozesse?

Es gibt beeindruckende Experimente über die Theory of Mind. Das ist die Vorstellung darüber, dass auch andere Lebewesen denken. Damit kann man unter bestimmten Bedingungen das Verhalten von anderen vorhersagen, weil man sich in sie hineinversetzen kann. Das hat man bei Raben zeigen können, bei Schimpansen später.

Was unterscheidet uns denn dann noch vom Tier?

In unserem Alltag denken und fühlen wir nicht sehr viel anders, als ein Tier das auch tun würde. Wenn es jetzt darum geht, ein Gespräch zu führen, reichen einfache Steuerungsmechanismen aber nicht mehr. Wir müssen abstrakt werden, uns schnell sehr viel merken können. Da wird es komplizierter. Dennoch wären viele überrascht, was kognitiv in den Köpfen von Tieren vor sich geht.

Wie stehen Sie mit diesem Wissen dazu, Tiere zu essen?

Ethisch ist das kompliziert. Philosophen argumentieren oft damit, dass Tiere keinen Besitz kennen und sich folglich auch nicht selbst besitzen können. Daher sei es legitim, dass wir sie in Besitz nehmen und mit ihnen machen, was wir wollen. Doch diese Annahme ist falsch! Der sogenannte Endowment-Effekt oder Besitztums-Effekt wurde sogar bei Schmetterlingen nachgewiesen. Der Respekt vor dem Besitz anderer ist uralt und tief in den Genen der meisten Tiere verankert.

Und essen Sie selbst Tiere?

Ich bin als Fleischfresser aufgewachsen, eine meiner schönsten Erinnerungen an meinen Vater ist, wie ich mich mit ihm in die Speisekammer geschlichen habe und wir uns dort eine Riesenscheibe Salami abgeschnitten haben. Mir schmeckt Fleisch, aber ich freue mich über jede neue Alternative. Ein Schwein, ein Rind oder einen Vogel zu essen, ist für mich schon seit vielen Jahren undenkbar.

Wählerische Papageien

Als die junge Harvard-Absolventin Irene Pepperberg begann, mit ihrem Papagei Alex zu trainieren, glaubte noch keiner, zu welcher Leistung der Vogel fähig war. Über mehrere Jahrzehnte brachte die Wissenschaftlerin dem Tier rund hundert englische Wörter bei, doch nicht nur das: Alex konnte Dinge in Kategorien einordnen. Wenn Pepperberg ihm einen grünen Schlüssel und eine grüne Tasse zeigte, wusste er sofort, was gleich ist: die Farbe. Und auch, was verschieden ist: die Form. Außerdem konnte er Materialien unterscheiden und im einstelligen Bereich zählen. Und auch wenn er etwas essen wollte, konnte er sehr klar sagen, auf was er Lust hat.

Betrügende Fische

Die Aufgabe der Putzerfische ist es, andere Tiere von Parasiten zu befreien. Ein Team um Redouan Bshary von der Universität Neuenburg in der Schweiz hat herausgefunden, dass sie diese Aufgabe aber nicht immer gleich gut erfüllen. Zum Beispiel putzen die kleinen Meerestiere mit mehr Hingabe, wenn sie von ihnen noch unbekannten Fischen beobachtet werden. Damit werben sie um neue „Klienten“, also um Fische, die geputzt werden wollen. Aber eigentlich mögen sie den Schleim, der die anderen Fische umgibt, viel lieber als die Parasiten. Doch das ist Betrug und die Klienten merken das. Daher unterscheidet der Putzerfisch: Fische, die ihm gefährlich werden können, betrügt er eher nicht. Und auch wenn viele andere Putzerfische in der Nähe zugange sind, hütet er sich vor Fehlverhalten, schließlich haben Klienten dann die Auswahl.

Prophetische Affen

Eine der höchsten Formen von Denken ist das Wissen, dass andere die Welt ebenfalls wahrnehmen und eventuell auch falschen Wahrnehmungen aufsitzen. Ohne Theory of Mind könnten wir andere zum Beispiel nicht manipulieren oder ihr Verhalten vorhersagen. Bei verschiedenen Menschenaffen wurde von einem Team rund um Christopher Krupenye von der Duke University und Fumihiro Kano von der Kyoto University bewiesen, dass sie das ebenso können. Wenn sie sahen, dass ein Objekt von einer Stelle entfernt wurde und gleichzeitig wussten, dass ein Mensch das nicht sehen konnte, konnten sie die Reaktion des Menschen vorhersagen. Sie konnten sich also in seine Gedankenwelt hineinversetzen und verstehen, dass er falsche Informationen hat.

Kumpelnde Ratten

Lange wurde gedacht, dass nur Menschen Mitgefühl empfinden können. Doch das ist längst überholt. So konnte das zum Beispiel bei Ratten gezeigt werden. Über einen Mechanismus retteten sie eine befreundete Ratte, auch wenn keine Belohnung ausstand. Und selbst als ein Team um Neurobiologin Peggy Mason und Jean Decety von der University of Chicago mit Schokolade lockte, rettete die Ratte zuerst ihren Kumpan und teilte sich dann das Essen. Vielleicht auch, weil ihr bewusst war, dass die eingesperrte Ratte ganz genau sieht, dass sie sich die Mahlzeit allein schmecken lässt.

Kartografierende Bienen

Ein Bienenschwarm ist sehr groß – und Nahrung nicht immer üppig vorhanden. Um den anderen Bienen im eigenen Stock zu zeigen, wo Blüten stecken, führen Bienen einen Tanz auf. Dieser zeigt zumindest eine grobe Orientierung an. Das Erstaunliche: Die kleinen Tiere müssen dabei eine Karte im Kopf haben. In einem Experiment wurden die Bienen auf einem See mit Nahrung versorgt, bevor sie zu ihrem Schwarm zurückflogen. Die anderen Bienen aber ignorierten die Wegbeschreibung und machten sich nicht auf den Weg – denn sie wussten: Da ist Wasser, da kann es doch gar keine Nahrung geben. Dafür müssen sie eine Vorstellung ihrer Umgebung haben.

Lösungsorientierte Krähen

Krähen gehören zu den besonders intelligenten Tierarten. So können sie zum Beispiel verschiedene Werkzeuge hintereinander verwenden, um an Nahrung zu kommen. Ein Forscherteam des Max-Planck-Instituts für Ornithologie in Seewiesen und der Universität Oxford hat etwas noch Komplexeres getestet: Können Krähen Werkzeuge selbst bauen? Die Antwort lautet: Ja. Eine Krähe aus dem Versuch konnte gar ein Werkzeug aus bis zu vier Einzelteilen zusammenbauen. Und das, ohne dass jemand den Tieren gezeigt hätte, wie das geht.

Emotionale Kühe

Es ist bekannt, dass Kühe untereinander emotionale Bindungen aufbauen, doch sie können auch Menschen wiedererkennen – und erinnern sich gut daran, wie sie behandelt wurden. In einem Experiment von dänischen und kanadischen Wis­sen­schaft­le­r:in­nen rund um Lene Munksgaard von der Universität Aarhus wurden Kühe von zwei verschiedenen Melkern gut oder schlecht behandelt. Von dem Menschen, der sie schlecht behandelte, hielten sich die Kühe danach fern. Auch die Farbe der Schürze wurde zum Warnsignal: Wenn eine fremde Person diese trug, reagierten die Kühe vorsichtig – aber nicht ganz so vorsichtig, wie wenn sie den Menschen dazu erkannten.

Gerechte Äffchen

Wir Menschen haben oft ein gutes Feingespür für Ungerechtigkeit. Doch das ist nicht einzigartig: Kapuzineräffchen mögen Ungleichbehandlung ebenfalls nicht. In einem Experiment von Sarah Brosnan und Frans de Waal von der Emory University in Atlanta sollten sie Spielsteinchen für eine Gurke eintauschen. Andere Äffchen bekamen für die gleiche Arbeit aber die begehrteren Trauben. Als sie das bemerkten, tauschten sie das Steinchen entweder nicht ein oder nahmen sich ihre Belohnung für die Arbeit schlicht nicht. Damit machten sie deutlich, dass es hier ungerecht zugeht und ihnen das obendrein widerstrebt.

Rechnende Hühner

Hühner haben erstaunliche Fähigkeiten. So können Küken etwa schon kurz nach ihrer Geburt mit Zahlen umgehen. Nach einem Experiment von Rosa Rugani und ihren Kol­le­g:in­nen von der Universität Trient können Küken sogar bis fünf subtrahieren und addieren – während Affen und Kleinkinder auf einen Zahlenraum zwischen eins und drei beschränkt sind. Auch wenn es nur ums Zählen geht, haben Hühner etwas mit uns Menschen gemein: Sie zählen von links nach rechts.

Sich selbst erkennende Pferde

Ein Kind muss ein bis zwei Jahre alt sein, um sich selbst in einem Spiegel zu erkennen. Lange hatte man gedacht, dass Tiere das nicht können – unzählige Tests mit Schimpansen, Delfinen, Ameisen und Elstern lassen aber das Gegenteil vermuten. Auch Pferde scheinen sich selbst erkennen zu können, so zeigt es ein For­sche­r:in­nen­team rund um Paolo Baragli von der Universität Pisa. Wenn man ihnen unbemerkt einen Fleck ins Gesicht malt, den sie nur im Spiegel sehen können, versuchen sie diesen Fleck wieder zu entfernen. Also haben sie vermutlich eine Selbstwahrnehmung, das heißt die Vorstellung darüber, dass sie selbst existieren.

Grammatikalisch korrekte Meisen

Dass Tiere uns nicht unbedingt verstehen, ist bekannt. In der Verhaltensbiologie ist aber sowieso vor allem interessant, wie sie sich untereinander austauschen. In einer Studie von Toshitaka Suzuki, David Wheatcroft und Michael Griesser von der Rikkyō-Universität in Tokio zeigte sich, dass Meisen sogar eine Grammatik haben. Dafür wurden ihnen ihre eigenen Rufe vorgespielt. In der richtigen Reihenfolge reagierten die Vögel – wurden sie aber in einer anderen Reihenfolge abgespielt, machten sie rein gar nichts. Das heißt: Erst wenn man die Rufe in einer grammatikalisch richtigen Reihenfolge abgespielt hat, verstanden die Meisen sie. Also ist auch die Grammatik kein Alleinstellungsmerkmal des Menschen.

Planende Delfine

Delfine haben wie wir ein lebenslanges Gedächtnis und leben ebenso in einer Kultur. Das heißt, sie schauen sich sehr schnell von anderen Verhaltensweisen ab. In einem Experiment von Stan A. Kuczaj II und Kol­le­g:in­nen konnte gezeigt werden, dass sie noch weiter denken. Mehrere Gewichte wurden dafür nacheinander auf einen Mechanismus gelegt. Erst durch das vierte Gewicht öffnete sich dieser und gab Nahrung frei. Danach wurden die Gewichte weiter weg drapiert. Doch anstatt die Gewichte jeweils einzeln zu holen und auf den Mechanismus zu legen – so wie es vorgeführt wurde –, entschieden sich die Delfine dazu, alle Steinchen auf einmal zu tragen. Dadurch sparten sie sich Zeit und bewiesen ihre Kreativität. Zudem kann damit gezeigt werden, dass die Tiere im Voraus planen können.