Wegmarken der Wanderung

Anziehung und Vertreibung: Die jüngere Geschichte Äthiopiens ist auch eine Geschichte von Flucht und Migration

Ein äthiopischer Flüchtling auf der Fahrt zu einem Flüchtlingscamp im Sudan Foto: Baz Ratner/reuters

Aus Addis Abeba, ÄthiopienSolomon Kebede Taffese

Sadam Abdurrahman war 21 Jahre alt, als er 2013 in Haft kam. Wie so vielen jungen Äthiopiern warf ihm das damals schon seit 22 Jahren autoritär regierende EPRDF-Regime „Terrorismus“ vor – ohne jeden Beleg. Sadam verbrachte die nächsten Jahre in Haft und wurde gefoltert. „Vor allem die ersten beiden Monate im Maekelawi-Gefängnis waren unerträglich“, erinnert sich sein einstiger Zellengenosse Nureddin Mohammad. Auch er war des Terrorismus beschuldigt worden. 2016 kam Sadam auf freien Fuß. Ein Leben in Äthiopien konnte er sich nicht mehr vorstellen. Sadam wollte das Land verlassen – egal wie.

Zwei Monate später machte er sich auf die Reise Richtung Europa. Aus Sudan rief er seine Freunde an. Er sagte, dass er nach Libyen wolle. Es war das letzte Mal, dass jemand in Äthiopien seine Stimme hörte. Monate später erfuhr seine Familie, dass er in Libyen gestorben war. Geschichten von Tod, Folter oder Entführung auf den gefährlichen Migrationsrouten sind nicht neu. Äthiopische Jugendliche lassen sich jedoch davon nicht abhalten. Nach einer UN-Schätzung sind seit 2016 rund 839.000 Äthio­pie­r:in­nen ausgewandert.

Neben dem Drang vieler äthiopischer Jugendlicher, das Land angesichts von Repression und Krieg zu verlassen, ist Äthiopien gleichzeitig auch Ziel für viele Menschen am Horn von Afrika. 2021 lebten rund 810.000 offiziell registrierte Flüchtlinge in Äthiopien. Die tatsächliche Zahl dürfte höher sein. Aufgrund enger verwandtschaftlicher, sprachlicher und kultureller Bindungen ist es schwierig, zwischen Geflüchteten und Aufnahmegemeinschaften zu unterscheiden. Denn Eritreer, Südsudanesen und Somalier sprechen die gleiche Sprache.

Zu denen, für die Äthiopien nicht Ausgangspunkt, sondern Ziel ist, gehört Amir, ein junger Mann aus dem Nachbarland Eritrea. Die seit Jahrzehnten herrschende Diktatur verbietet ihren Bürgern, das Land zu verlassen. Sie werden zu einem jahrelangen, sklavenartigen Militärdienst gezwungen. Amir entschloss deshalb 2009, illegal außer Landes zu gehen. Wen Eritreas Grenzschützer erwischen, den erwartet der Tod. Doch Amir sah für sich keine Zukunft in Eritrea. Er beschloss, das Risiko einzugehen, und nahm Kontakt zu Schmugglern auf. Nach sieben Nächten erreichten sie die äthiopische Grenze. Er wollte nach Europa. Doch in Addis Abeba änderte Amir seine Pläne. Noch heute lebt er in Addis Abeba.

Äthiopien ist neue Heimat für Flüchtlinge aus 19 Ländern und gleichzeitig Ausgangspunkt der Migration. Vor den 1970er Jahren gingen nur wenige Angehörige einflussreicher Familien in den Westen, um zu studieren. Viele kamen zurück, weil sie einen privilegierten wirtschaftlichen und sozialen Status genossen. Ab den 1970er Jahren dann wanderten viele Äthio­pie­r:in­nen in die Nachbarländer aus. Diese Zeit war von Konflikten, Hungersnöten und Autoritarismus geprägt. Neben der humanitären Migration war auch die Auswanderung von Studenten insbesondere in die DDR, nach Kuba und in die UdSSR üblich.

Seit 1996 ist das Land relativ stabil. An die Stelle von Flucht trat Arbeitsmigration. Seit 2016 ging jeder Dritte äthiopische Migrant zum Arbeiten nach Saudi-Arabien. Auch Südafrika und die Arabischen Emirate waren beliebte Ziele. Nur wenige gingen nach Europa und in die USA. Äthiopier:innen, die in den Westen ziehen, sind in der Regel gut ausgebildet. Politische Gründe, Verwandte oder Freunde in den Aufnahmeländern sind für sie die wichtigsten Push-Faktoren.

Der Glamour der westlichen Städte ging Samson Berhe schon während seiner Highschool-Zeit nicht aus dem Kopf. Nach dem Abschluss versuchte der junge Äthiopier ein Dutzend Mal, ein Visum zu bekommen. 2012 gab ihm die Türkei ein Studentenvisum. Er flog mit vielen anderen Studenten in die türkische Republik Nordzypern. Kaum einer der „sogenannten Studenten“, wie er sagt, hatte Interesse an Bildung. Ihr einziges Ziel war es, Zypern als Sprungbrett in die EU zu nutzen

Viele, die voller Hoffnung aus der Diaspora zurückkehrten, sind entmutigt. Die Hoffnungen haben sich zerschlagen

Doch Samson Berhe wollte einen Abschluss machen, um danach in die Schweiz zu gehen. Nach vier Jahren schloss er sein Studium mit der besten Note seines Fachbereichs ab. Inzwischen war sein neuer Traum, ein eigenes Unternehmen in seinem Heimatland zu gründen. Er wusste, dass die Ausbildung und die Arbeitsmoral, die er aus Zypern mitgenommen hatte, ihm Perspektiven in Äthiopien bieten könnten. Proteste in seiner Heimat zeigten, dass politische Reformen vor der Tür standen. So kehrte er zurück. Samson versuchte sich als Berater und Fotograf, bevor er in die Modebranche einstieg. Heute ist er Inhaber von Viava Fashion, einem der bekanntesten Herrenbekleidungsgeschäfte in der Hauptstadt.

Wie Samson sind viele in der Diaspora, darunter auch hochrangige Persönlichkeiten, in ihr Heimatland zurückgekehrt. Auch einfache Bürger, die vor dem repressiven Regime geflohen waren, kamen zurück. Eine von ihnen ist Aisha Muhammad, die zuvor in den USA lebte. Der 2018 ins Amt gekommene Abiy Ahmad – Friedensnobelpreisträger 2019 – hat viele Reformen gebracht, sagt sie. „Er war mutig genug, Tausende von politischen Gefangenen und Journalisten freizulassen. Er lud jeden ein, der einen Beitrag zur Verbesserung des Landes leisten konnte. Also dachte ich, wenn ich jetzt nicht zurückkehre, wann dann?“, sagt Aisha Muhammad.

Doch schon bald endete der Optimismus. Bevor Abiy an die Macht kam, waren die Eliten der ethnischen Gruppe der Tigray die wichtigsten Akteure in der Politik. Abiys Reformen verunsicherten sie. Historische Landkonflikte zwischen den benachbarten Regionen Amhara und Tigray und der Widerstand der Tigray gegen die Zentralregierung eskalierten. Im November 2020 griffen die Streitkräfte der Regionalregierung von Tigray das Nordkommando des äthiopischen Militärs an. Die Bundesregierung schlug zurück, die Kämpfe dauern seither an. Sie lösten eine humanitäre Krise aus, wie es sie seit Jahrzehnten nicht mehr gegeben hat. Laut UN gibt es heute rund vier Millionen Binnenvertriebene im Land. Es wird geschätzt, dass es 40 Jahre dauern wird, bis die Region sich wirtschaftlich vom Krieg erholt hat – in einem Land, das sich einst als Leuchtturm der Stabilität am Horn von Afrika rühmte.

Die Auswirkungen des Konflikts sind überall zu spüren. Menschen werden vertrieben, Fabriken schließen. Beides wird die Migration anfeuern – und auf der anderen Seite Migranten davon abhalten, in das Land zurückzukehren. „Die Zukunft sieht düster aus, aber ich bereue meine Rückkehr nicht“, sagt Aisha. Doch viele, die voller Hoffnung aus der Diaspora zurückkehrten, sind heute entmutigt. Die Hoffnungen, die Abiy hatte, haben sich zerschlagen.