berliner szenen
: Große schöne Zähne

Trotz allen Gesangs und irren Gelächters in beseelter Runde endete das vergangene Jahr bescheiden und begann das neue unterirdisch. Auch Yoga bot keinerlei Trost. Glücklich, wer auf eine andere, in seinem Lebenslauf womöglich viel ältere Bewegungsart zurückgreifen kann. Ein Freund erzählte beispielsweise bei einem der letzten Spaziergänge so plastisch vom Rollschuhfahren, dass ich ihn augenblicklich mit kindlicher Freude dahingleiten sah. Oder man ist sein Leben lang geschwommen.

Die Schlange vorm Spreewaldbad ist schon eine halbe Stunde vor Kassenöffnung so lang, als gäbe es gleich versilberte Bananen. Wer nicht online reserviert hat, kann mit etwas Glück eine der 20 frei verkäuflichen Tickets ergattern. Die Frau mit der Cineastenbrille kennt sich damit aus. Einmal lacht sie den sportlichen Typ hinter mir an, und man sieht bei der Gelegenheit, dass sie große schöne Zähne hat. Dann wird ihr Blick wieder leer und kehrt sich nach innen, so als feile sie an einem klugen Satz zu einer bestimmten Szene eines Films, der in rekonstruierter Fassung demnächst im Arsenal läuft.

An den zugigen Sitzstufen am Schwimmerbecken lehnt wie in der Woche zuvor eine Beinprothese und am Beckenrand steht wieder ein blauer Plastikschuh. Diesmal schiele ich nach den runtergeratterten Bahnen unter Wasser zu den beiden durchtrainierten Männern, die aus Syrien kommen könnten. Nee, bei denen ist alles dran. Es ist ein junger Mann zwei Bahnen weiter, dem vom rechten Bein nur noch ein Stück oberhalb des Knies geblieben ist. Motorradunfall?

Beim Abendbrot berichte ich meinen Kindern davon. Sagt der eine: „Seit wann dürfen Amputierte ins Schwimmbad?“ Empathie ist bekanntlich ein mühseliges Unterfangen, dennoch trauere ich kurz der Prügelstrafe hinterher. Kathrin Schings