Sympathien für einen Mörder, der lernen will

„Alphabet“: Kathy Pages ambivalente Geschichte eines Resozialisierungsprojekts

Kathy Page: „Alphabet“. Aus dem Englischen von Beatrice Faßbender. Wagenbach, Berlin 2021, 316 Seiten, 24 Euro

Von Thomas Schaefer

Ein differenzierter Umgang mit Pro­ble­men ist als solcher zwar bekanntlich schwierig, aber auch notwendig. Das illustriert „Alphabet“, der zuerst 2004 in England erschienene Roman der Kanadierin Kathy Page. Darin greift die 1958 geborene Autorin, die hierzulande 2019 mit dem Roman „All unsere Jahre“ auf sich aufmerksam gemacht hat, auf Erfahrungen zurück, die sie Mitte der Neunziger als „Writer in Residence“ in einem englischen Männergefängnis gesammelt hatte. In einer solchen Haftanstalt lebt ihr 1988, zu Beginn der Geschichte, 29-jähriger Protagonist Simon Austen, der mit Anfang zwanzig seine Freundin ermordet hat und zu „lebenslänglich“ verurteilt wurde.

Simon verfügt über eine klischeehaft anmutende Biografie: Der Vater ist unbekannt, die Mutter hat ihren kleinen Sohn im Stich gelassen, es folgen dessen Aufwachsen bei Pflegeeltern und im Heim, ein Job als Teppichleger, dann das Verbrechen, die Verurteilung, Haft. Das wirkt auf den ersten Blick ebenso modellhaft wie Pages Bilder aus dem Innenleben der Hafteinrichtungen. Die Beschreibungen der dort angestrengten Therapien, der Hie­rar­chien und Machtstrukturen erinnern an die psy­chia­trie- und strafvollzugskritische Reformbewegung der 1970er Jahre, an einst diskursleitende Bücher wie Heinar Kipphardts „März“ oder Ken Keseys „Einer flog über das Kuckucksnest“.

Freilich weiß Kathy Page nur zu gut, wie komplex ihr Stoff ist, um sich mit simplen programmatischen Ansätzen zufriedenzugeben, wenn sie Simons Weg durch die Gefängnisse folgt. „Alphabet“ ist mehr als ein sozialkritisches Fallbeispiel: ein Entwicklungs- und Bildungsroman. Der Junge, der als Analphabet inhaftiert wird, lernt lesen und schreiben und entwickelt einen starken Ehrgeiz: Er will etwas aus sich machen, gar studieren: „Lerne! Verändere dich! Sei nicht stolz. Mach’s anders, besser“, lautet sein Mantra. Bildung ist der Weg ins Freie, auf die Wörter kommt es an, die verschleiern und verwirren, aber auch Erkenntnis fördern und Kraft geben können, Wissen ist tatsächlich Macht.

Mit Trotz seine Würde verteidigen

Dass es um Macht geht, macht den Roman kompliziert. Zum einen gibt es allerlei Rivalitäten unter dem behandelnden Personal, von dem Simon gelegentlich zu jeweiligen Karriere- oder Konkurrenzzwecken instrumentalisiert wird. Der Umstand, dass er lange nicht bereit ist, sich zu seiner Tat zu bekennen, erschwert es ihm, seine eigenen Ziele zu erreichen – auch er ist nicht frei von dem Versuch, Macht auszuüben, Leute auf seine Seite zu ziehen. Simon ist ein so sensibler wie bockiger Mensch, der sich sehr aufregen kann, wenn ihm beispielsweise ein Therapeut erklärt, eine anstehende Behandlungsmaßnahme ziele ab auf „ein besseres Verständnis von Ihrem Sexualtrieb im Kontext des indizierten Delikts“.

Der Trotz, mit dem er seine Würde verteidigt, lädt zur Identifikation mit diesem schwierigen Charakter ein, dem durchaus bewusst ist, was er getan hat und dass er sein Leben lang mit seiner Schuld klarkommen muss. „Ich mache das auf meine Art“ ist das Motto, das sich wie ein roter Faden durch seinen Werdegang zieht. Man beginnt Sympathien für ihn zu entwickeln, weil man dem Können der Autorin erliegt, ihrem sicheren Gespür für Tempo und Timing, dem dramaturgisch geschickten Erzählen, das nie die Ambivalenzen dieses Pro­ta­go­nis­ten leugnet, bei dem wir es womöglich mit einem Manipulator zu tun haben.

Simon manipuliert die Frauen, mit denen er Brieffreundschaften eingeht, das therapeutische Personal, uns, die wir seiner Geschichte zuhören. Doch vielleicht ist er auch nur ein überforderter junger Mann, der Mühe hat, seinen Weg zu finden und, weil er das unter der belastenden Not von Schuld und Sühne zu tun hat, droht vom Täter zum Opfer zu ­werden. Dass er auf einen Mithäftling trifft, der sich einer Geschlechtsumwandlung unterzieht und für Simon zum Mentor auf dem Weg zur Selbstfindung avanciert, weist den Roman als sehr gegenwärtig aus. Nötig hätte er eine solch ­überdeutliche Erkenne-dich-selbst-Lektion nicht, die eindrückliche Geschichte, ihr differenziertes Seelen-Bild, hätte auch so getragen.