Ein
Raumfür Utopien

Die neue Regierung verspricht Fortschritte in der Familienpolitik und der Digitalisierung. Das wird auch höchste Zeit. Auch beim Erhalt der Artenvielfalt muss es im nächsten Jahr vorangehen

Der Weg nach oben ist steil und beschwerlich, da ist Solidarität und Tatkraft gefragt Foto: Maximilian Boschi/PantherMedia/imago

Das lässt hoffen: „Für Menschen in Arbeitslosigkeit und Grundsicherung fördern wir vollqualifizierende Ausbildungen bei der beruflichen Weiterbildung unabhängig von ihrer Dauer“, heißt es im Koalitionsvertrag. Und: „Der Vermittlungsvorrang im Sozialgesetzbuch II wird abgeschafft“.

Im Klartext bedeutet dies, dass Hartz-IV-Empfänger:innen nicht mehr vom Jobcenter ohne Weiteres aufgefordert werden können, doch bitte zuvörderst einen Niedriglohn-Job bei einer Zeitarbeitsfirma anzutreten und etwa eine begehrte Ausbildung nicht anzufangen oder gar sausen zu lassen. „Das ist ein richtig guter Punkt“, lobt Harald Thomé, Berater im Selbsthilfeverein Tacheles in Wuppertal.

Die Empfänger:innen von Hartz IV, künftig „Bürgergeld“ genannt, sollen künftig sogar 150 Euro im Monat zusätzlich bekommen, wenn sie eine abschlussbezogene berufliche Ausbildung machen. Alleinerziehende sollen mehr Möglichkeiten für Ausbildung in Teilzeit erhalten. Das wäre der Traum: Man kann sich etwa als alleinerziehende Hartz-IV-Empfängerin die Ausbildung selbst aussuchen, ob als Ergotherapeutin oder als Kauffrau mit Schwerpunkt Bio und Nachhaltigkeit und dazu sogar die familienfreundlichen Arbeitszeiten wählen. Barbara Dribbusch

Wer könnte wohl etwas Trost spenden in der niemals endenden Pandemie? Richtig: die so wandelbare wie integre, unangefochtene isländische Popdiva Björk. Ihr für 2022 angekündigtes neues Album sei gemacht für Menschen, die ihre Wohnzimmer zu Clubs umfunktionierten, sagte sie kürzlich – insofern könnte selbst der nächste Lockdown die Vorfreude darauf kaum trüben. Ihre Musik soll auch irgendwie beruhigend auf uns wirken, jedenfalls sprach Frau Guðmundsdóttir davon, dass ihr neues Album teils „chillig“ und teils „calm“ sei. Und im Mai 2022 lädt das Centre Pompidou Metz zudem zur Björk-Ausstellung „Un jardin d’intérieur“. Also: Keep calm and chill. Jens Uthoff

Die Verkehrswende wird 2022 einen Schub bekommen – und das nicht nur dank der immer stärkeren Verbreitung von E-Autos. Weitaus folgenreicher ist der bevorstehende Durchbruch autonom fahrender Busse. Denn Fahrer:innen, die im Notfall eingreifen können, müssen nicht mehr als Begleitung an Bord sein. Damit wird die Einrichtung von Shuttle-Diensten billiger, auch der Personalmangel im ÖPNV kann durch selbstständig fahrende Einheiten abgefedert werden.

Die Folge: Es können künftig auf festgelegten Strecken viel mehr Busse in kürzeren Taktungen eingesetzt werden als bisher, der ÖPNV als Alternative zum Auto wird attraktiver. In Dutzenden Pilotprojekten in der Bundesrepublik haben sich autonom fahrende Busse bereits bewährt – jetzt können sie Teil des alltäglichen Betriebs werden. Anja Krüger

freizeit

Diese schuppige, etwas aufgeplatzte Rinde, wie bei einem Reptil, das in der Sonne ausgetrocknet ist. Dann diese rundlichen Blätter mit der Einbuchtung an der Spitze, als hätte jemand hineingeschnitten. Ja, die Schwarzerle sieht schon anders aus als die Winterlinde mit eher geriffelter, geschlossener Baumrinde und zwar ebenfalls rundlichen Blättern, die aber an einem Ende einen Schweif haben und darum süßlicher wirken. Hunderte von pandemiebedingten Spaziergängen an der Berliner Havel haben meine Baumexpertise wachsen lassen. Ein Vorteil der räumlichen Beschränkungen, den man mitnimmt in das Jahr 2022. Barbara Dribbusch

Die erste Fußball-Bundesliga der Männer ist wie zuletzt so oft eigentlich schon zu Jahresbeginn entschieden (zumindest obenrum). Umso mehr können sich Fußballfans darauf freuen, was die zweite Männer-Liga in der Rückrunde zu bieten hat. Ohnehin ist die untere Etage ja inzwischen der attraktivere Ort für Fußballromantiker, spätestens nachdem Werder und Schalke den illustren Kreis der Wir-waren-doch-mal-wers – HSV, Hannover 96, der Nürnberger „Club“ usw. – verstärkt haben.

Doch vor allem die Unwägbarkeit und Unberechenbarkeit machen diese Liga so faszinierend. Zwischen Platz 3 und Platz 15 liegen 10 Punkte, alles ist möglich. Und oben stehen nicht etwa die oben genannten Schwergewichte, sondern: St. Pauli und Darmstadt. Es wird ein Fest, dieses Rennen um den Auf- und Abstieg, und man kann sich jetzt schon den 15. Mai 2022 (letzter Spieltag) fett im Kalender anstreichen!

Fragt sich nur, ob überhaupt noch wer aufsteigen will – denn wer möchte schon in der sterbenslangweiligen ersten Bundesliga spielen? Jens Uthoff

Als zwei ältere Damen, kurz nachdem die eingetragene Lebenspartnerschaft für Lesben und Schwule, die sogenannte Ehe light, 2001 in Kraft trat, genau diese miteinander schlossen, war die Aufregung groß. Die beiden Frauen waren nämlich weder lesbisch noch liebten sie sich im Sinne einer Liebesliebe. Sie wollten einfach nur unkompliziert zusammenleben und im Notfall alles für die andere regeln dürfen, vor allem rechtlich: im Krankenhaus, bei Banken, im Todesfall. Das war für unverheiratete „Paare“ damals überaus schwierig, mitunter erst gar nicht möglich.

Mittlerweile ist alles einfacher und die Alten-WG der neue Kommunenpragmatismus. Damit es noch einfacher wird und rechtlich sicher, will die Ampelregierung das Mietrecht für ein Kommunardenleben im Alter anpassen. Die Mitbewohner:innen sind laut Ampel-Sprachregelung dann „Wahlverwandte“, die sich im „Institut der Verantwortungsgemeinschaft“ befinden. Klingt verdammt nach „Das Gute-Leben-Gesetz“, ist aber trotzdem sinnvoll. Und kiffen soll bald auch legal sein – was kann also schöner sein, als künftig alt zu werden?

Simone Schmollack

Jetzt können wir neu über die Rechte von Frauen nachdenken

Von Patricia Hecht

Progressive Ideen hatten in den vergangenen 16 Jahren keine Konjunktur. Konservativ, wie die unions­geführten Regierungen waren, ging es darum, mitunter auch mit Zähnen und Klauen zu verteidigen, was man für bewahrenswert hielt. Wenn überhaupt, ging es träge voran. Zukunftsweisend, utopisch gar? Daran war nicht zu denken.

Nun will die neue Bundesregierung in der Frauen- und Familienpolitik große Schritte vorangehen. Zum Teil sind es Vorhaben, die überwältigend naheliegend wirken, lange aber unerreichbar schienen: Das Transsexuellengesetz soll abgeschafft werden, Paragraf 219a ebenso. Zudem sollen die Istanbulkonvention gegen Gewalt gegen Frauen umgesetzt, eine Kindergrundsicherung eingeführt, Geburten sicherer gemacht werden. Huch – es ist ja möglich, Geschlechterpolitik zu machen! Es ist möglich, aktiv zu werden, auch und gerade in der parlamentarischen Politik.

Der Impuls, in dieser Erleichterung innezuhalten, ist aber schon insofern falsch, als in den Plänen der Ampel viel Spielraum besteht. Es ist nicht gesagt, dass das, was im besten Fall zu hoffen ist, auch umgesetzt wird. Aber aus der Zivilgesellschaft heraus auszubuchstabieren und einzufordern, was im Koalitionsprogramm skizziert ist, ist mit neuem Elan machbar.

So öffnet sich der Raum des Utopischen: Nicht nur für den Mindeststandard kämpfen zu müssen, sondern frei darüber nachdenken zu können, was wäre, wenn – das ist nun neu möglich. Ausgehend von Ideen des Koalitionsvertrags hier also einige Gedanken, wohin es in Zukunft gehen könnte, wenn wir über Gewaltschutz, Familie und sexuelle und reproduktive Rechte sprechen.

Hierzulande gilt wie in den meisten europäischen Staaten die Istanbulkonvention, ein Abkommen zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen von 2011. Die Türkei ist wieder ausgetreten, auch Polen hat das vor. Die Groko stellte sich auf den Standpunkt, die Konvention sei in Deutschland bereits umgesetzt – auch wenn die Fakten eine andere Sprache sprechen.

Öfter als jeden dritten Tag wird hierzulande eine Frau von ihrem Partner oder Ex-Partner getötet. 80 Prozent der Opfer von Partnerschaftsgewalt sind Frauen. Fast ein Viertel der Mädchen zwischen 16 und 18 Jahren haben einen Vergewaltigungsversuch erlebt. Die Dunkelziffer bei alldem ist immens.

Fast 54 Milliarden Euro, so eine aktuelle Studie des Europäischen Instituts für Gleichstellungsfragen, kostet Gewalt gegen Frauen die Bundesrepublik jährlich. Unterstützungsleistungen wie Frauenhäuser betreffen davon nur einen winzigen Bruchteil. Vielmehr geht es um den Ausfall von Arbeit, Kosten im Justiz- und Gesundheitssystem, Sozialleistungen und psychosoziale Folgen. Gewalt gegen Frauen ist eine Epidemie.

Nun kündigt die Ampel eine kleine Revolution an: Sie will die Istanbulkonvention „vorbehaltlos und wirksam“ umsetzen. Was genau das bedeutet, ist nicht definiert – ebenso wenig die Kosten. Wahrscheinlich wäre nun Folgendes: Die neue Bundesregierung gibt die „Vorbehalte“ der bisherigen gegen einzelne Artikel der Konvention auf, etwa hinsichtlich des Gewaltschutzes für Migrantinnen. „Wirksam“ wiederum könnte bedeuten: der Bund steigt wie versprochen in die Finanzierung von Frauenhäusern ein. Beides ist nötig.

Doch um die Istanbulkonvention „vorbehaltlos und wirksam“ umzusetzen, müssten rund 14.000 Plätze in Frauenhäusern geschaffen werden, so viele fehlen laut Konvention in Deutschland. Alle Betroffenen müssten schnell und diskriminierungsfrei Unterstützung finden. Ein flächendeckendes, gut ausgebautes und sicher finanziertes Unterstützungssystem müsste vorhanden sein. Es müsste Fortbildungen in Medizin, Justiz, Polizei und Sozialarbeit geben. Stark gefährdete Frauen bekämen schnell und koordiniert Hilfe, um Femizide zu verhindern. Geschlechtsspezifische Gewalt würde als Verantwortung aller begriffen und nicht länger als individuelles Problem betrachtet, sondern als Menschenrechtsverletzung. Das muss das Ziel sein.

Familie, das war bis vor nicht allzu langer Zeit Vater, Mutter, Kind. Dieses Ideal der heterosexuellen Kleinfamilie, das Mütter tendenziell der häuslichen Sphäre zuweist, wirkt fort. Auf juristischer Ebene brach es in den vergangenen Jahren langsam auf, vor allem durch die Ehe für alle.

Die Ampelkoalition plant nun, Familie juristisch auf den Stand zu bringen, auf dem sie gesellschaftlich längst ist: Familie ist „überall dort, wo Menschen Verantwortung füreinander übernehmen“, heißt es im Koalitionsvertrag. Das Familien- und Abstammungsrecht soll modernisiert werden, soziale Eltern sollen das kleine Sorgerecht bekommen können. Eine zweiwöchige bezahlte Freistellung für Part­ne­r:in­nen rund um die Geburt hat Familienministerin Anne Spiegel angekündigt, auch bei Fehlgeburten soll diese möglich sein. Die Kindergrundsicherung soll Kinder aus der Armut holen.

All das wäre ein enormer Fortschritt. Diskutiert werden muss aber die Zielvorstellung. „Ziel der Gleichstellungs- und Familienpolitik“ nämlich sei eine „höhere Erwerbsbeteiligung von Frauen“, heißt es im Vertrag. Allerdings ohne eine Idee zu formulieren, wie Sorgearbeit umverteilt werden kann, obwohl Frauen vor allem in heterosexuellen Beziehungen und Ein-Eltern-Familien unter chronischer Doppelbelastung leiden.

Vereinbarkeit heißt nicht, dass alle immer mehr arbeiten und gemeinsam ausbrennen, sondern Erwerbs- und Sorgearbeit so zu gestalten, dass befriedigende Teilhabe für alle möglich ist. Zunehmende Erwerbsarbeit von Frauen könnte etwa mit einer vergleichbar abnehmenden von Männern einhergehen, mit familienfreundlichen Arbeitszeiten, etwa durch allgemeine Reduktion der 40-Stunden-Woche, einer guten Infrastruktur für Kinderbetreuung und der Unterstützung alternativer Wohnformen. Und zentral: mit der Entwicklung eines neuen, erweiterten Begriffs von Arbeit und Care.

Care-Arbeiten sind lebensnotwendige Tätigkeiten, ohne die Gesellschaften nicht existenzfähig sind. Dennoch wird Care bislang abgewertet. Das Gegen­teil muss der Fall sein – auch, um nicht alle Tätigkeiten zu monetarisieren, die Care betreffen. Es führt kein Weg daran vorbei, dass Partner:innen, vor allem männliche, mehr Hausarbeit, Kinderbetreuung und Care übernehmen. Dafür müssen wir Arbeit, ihre Formen und Bedingungen diskutieren und die Unwucht auflösen, die zwischen den Geschlechtern besteht.

„Sexuelle und reproduktive Rechte“ ist ein etwas sperriger Begriff, der, anders als etwa in den USA, hierzulande noch nicht im Mainstream angekommen ist. Worum es geht, ist aber sehr konkret: um Menschenrechte im Zusammenhang mit Sexualität, Verhütung, Schwangerschaft, Geburt und Elternschaft.

Die Ampel kündigt an, die sexuelle und reproduktive Gesundheit von Frauen und LGBTI stärken zu wollen – ein Meilenstein. Konkret bedeutet das: Der Paragraf 219a wird gestrichen, das Informationsverbot für Schwangerschaftsabbrüche. In Bezug auf den Paragrafen 218, der Abbrüche illegalisiert, soll eine Kommission erörtern, wie Abbrüche außerhalb des Strafgesetzbuchs geregelt werden können. Verhütung soll für arme Menschen kostenfrei sein, Geburten sollen sicherer gemacht werden. Änderungen des Geschlechtseintrags im Personenstand sollen per Selbstauskunft möglich sein.

Das ist viel. Was jenseits dessen allerdings noch möglich ist, ist immens. In Kanada etwa sind Schwangerschaftsabbrüche seit rund 30 Jahren keine Straftat mehr, sondern werden als das anerkannt, was sie sind: eine Gesundheitsleistung, die Frauenleben rettet. Würden reproduktive Rechte ernst genommen, gäbe es zudem nicht nur eine 1:1-Betreuung durch Hebammen, sondern auch eine Aufwertung ihrer Arbeit. Keine Hebamme müsste drei oder mehr Frauen unter der Geburt gleichzeitig betreuen und um deren Gesundheit und Leben fürchten. Es gäbe einen Kulturwandel in der Geburtshilfe, hin zu würdevollen, gut ausgestatteten Geburten, die Frau und Kind in den Mittelpunkt stellen.

Man könnte – gewagt, gewagt – noch weiter gehen: hin zu einem Konzept namens reproduktive Gerechtigkeit. Das bringt reproduktive Rechte mit sozialer Gerechtigkeit zusammen. Im Mittelpunkt stehen dabei: das Recht, Kinder zu bekommen, das Recht, keine Kinder zu bekommen, und das Recht, Kinder selbstbestimmt, unter guten sozialen, ökologischen und gesundheitlichen Bedingungen aufziehen zu können. Dafür braucht es unter anderem eine rassismuskritische Gesundheitsversorgung, die nicht nach Effizienzkriterien arbeitet, bezahlbaren Wohnraum und eine Umverteilung von Vermögen.

Reproduktive Gerechtigkeit würde Menschen im sexuellen und reproduktiven Bereich stärken und zugleich enorme Auswirkungen in Bezug auf Lohnarbeit, Gender Pay Gap, Gleichstellung und Care haben. Es wäre ein Paradigmenwechsel hin zu einem selbstbestimmten Leben.

Gewaltfreiheit, Familie sowie sexuelle und reproduktive Rechte sind keine voneinander getrennten Bereiche. Sie hängen zusammen, zum Teil bedingen sie sich gegenseitig. Es lohnt sich, sie als großes Ganzes zu denken. Was die Ampel ankündigt, sind überfällige Justierungen – aber es braucht mehr. Man könnte sagen: All das, was in diesem Text angerissen wurde, fehlt im Koalitionsvertrag. Als Utopie formuliert klingt es schöner: Die Perspektive, dass all das möglich ist, erscheint am Horizont.

Ein besseres und schöneres digitales Leben ist möglich

Nicht nur die Verkabelung muss stimmen: Bei der Digitalisierung gibt es viele Baustellen Foto: Louis Quail/getty images

Von Tanja Tricarico

Das Internet war einst Neuland für Altkanzlerin Angela Merkel. In den Behörden stehen immer noch Faxgeräte. Online Termine beim Bürgeramt buchen? Nur was für nervenstarke Einwohner:innen. In Brandenburg sitzt man bis heute weitgehend im Funkloch. Das Land ist seit Jahren im digitalen Rückstand. Die Pandemie hat schmerzlich gezeigt, wie groß die Lücken beim Ausbau von Infrastruktur sind, wie wenig die Digitalisierung des öffentlichen Lebens auf der politischen Agenda steht. Dabei sind digitale Technologien längst Standard im Alltag der Bür­ge­r:in­nen.

Mit der neuen Bundesregierung tut sich ein Lichtblick auf. Das sagt selbst die allseits kritische Hackercommunity, die sich in dieser Woche – remote, also nur im digitalen Raum – zum Chaos Communication Congress traf. Es scheint der Ampel ein echtes Anliegen zu sein, die Digitalisierung nicht weiter im Schneckentempo anzugehen, sondern den berühmten Turbo einzulegen. Digitalisierung sei Querschnittsaufgabe, mitgedacht bei allen Gesetzesvorhaben, Bestandteil der Ampel-DNA, heißt es. Also Problem erkannt?

Es sieht so schlecht nicht aus. Etwa bei der Förderung von Open-Source-Projekten, in der öffentlichen Verwaltung. Zehn Millionen Euro sind dafür vorgesehen. Daten des Staates aus allen Verwaltungsebenen sollen zusammenfließen und in einheitlichen Formaten abgebildet werden. Die Ak­teu­r:in­nen müssen sich nur noch auf einen gemeinsamen Standard, eine gemeinsame Sprache einigen. Mit ein bisschen gutem Willen lässt sich das bewerkstelligen. Dann kommt es auf das Wie an. Wer arbeitet mit? Wohin fließt die Förderung? Kommen die Daten dem Gemeinwohl zugute? Wie transparent ist der Prozess? An Arbeitsgruppen wird es in den kommenden Jahren sicher nicht mangeln.

Und vermutlich auch nicht an Geld. Der Ausbau der digitalen Infrastruktur insbesondere im ländlichen Raum wird einiges kosten. Priorität habe das Thema, bekräftigt der neue Digital- und Verkehrsminister Volker Wissing (FDP). Die Vorsitzende des Digitalausschusses im Bundestag, Tabea Rößner (Grüne), will Druck machen. Jetzt müssen nur noch Vergabeverfahren entbürokratisiert werden, damit das Geld dort landet, wo es hinsoll. Nämlich in den letzten Winkeln der Republik.

Auch die digitale Bildung ist der Ampel einiges wert. Sogar ein eigenes Institut nach dem Vorbild der Bundeszentrale für politische Bildung wird genannt. Es geht um Kompetenzen im Umgang mit sozialen Medien, um Datenschutz, um Meinungsbildung im Netz. Aber auch darum, dass Schule nicht im miefigen Klassenzimmer festsitzt, sondern in digitale Plattformen freigelassen wird. Das Netz als Lernort. So soll Internet schließlich sein.

Aber Digitalisierung ist nicht nur Infrastruktur, Verwaltung, das Bereitstellen von Plattformen. Freiwillige haben in den vergangenen Monaten auf Sicherheitslücken hingewiesen und gefixt, Datenlecks entdeckt und veröffentlicht, Hassrede und digitale Gewalt im Netz angeprangert und juristisch verfolgt – kurz den digitalen Rückstand auf allen Ebenen sichtbar gemacht. Die Ampel ist gut beraten, ihre Expertise in sämtliche Vorhaben einzubinden.

Ein konkretes Beispiel für ein Lieblingsprojekt der neuen Bundesregierung, die Digitalisierung der Verwaltung: Die AG Kritis, ein Zusammenschluss von knapp 40 IT-Sicherheitsexpert:innen, hat die Idee eines Cyberhilfswerks aufgelegt, einer Art THW für die digitale kritische Infrastruktur. Kommt es zum digitalen Katastrophenfall in Verwaltung, Behörden, Krankenhäusern oder Einrichtungen, die Strom- und Abwasserversorgung organisieren, kommen die Hel­fe­r:in­nen zum Einsatz. Die Zivilgesellschaft wehrt Cyberangriffe ab oder schließt Sicherheitslücken gemeinsam mit den Zuständigen aus den Unternehmen und Verwaltungseinheiten. Was nach weit entfernter Zukunft klingt, will Sachsen-Anhalt umsetzen, zumindest prüft das dortige Digitalministerium derzeit einen solchen Vorschlag. Das Land agiert aus Erfahrung: Im Landkreis Anhalt-Bitterfeld musste im Sommer der digitale Katastrophenfall ausgerufen werden: An­grei­fe­r:in­nen hatten dort Rechner verschlüsselt und die Verwaltung lahmgelegt. Die Bundeswehr musste damals zu Hilfe eilen. Gelingt das Cyberhilfswerk in Sachsen-Anhalt, könnten andere Bundesländer nachziehen.

Im weltweiten Netz bewegen sich nicht nur die Guten, die Freundlichen, sondern auch die Hasserfüllten und Gierigen, die arglose Nut­ze­r:in­nen auch schon mal um viel Geld in der physischen Welt erpressen. Wer digitale Technologien nutzt, hinterlässt Datenspuren. Einige wenige Tech-Giganten strecken die Fühler aus, saugen die Daten ihrer Nut­ze­r:in­nen auf. Verkaufen ihnen dann schöne Produkte, nebenbei werden noch politische Haltungen angeboten. Vermeintliche Vorbilder, gesellschaftliche Dos and Don’ts, Werbung, Falschnachrichten, gezielte Desinformation spülen sich durch alle Onlinekanäle, mogeln sich zwischen verifizierte News.

Weil das alles nicht schön ist, wird es Zeit für eine Offensive, die mehr ist als von der Ampel geplant. Die Utopie könnte ungefähr so aussehen: Überall im Land schwärmen Bagger aus, um Schneisen für Leitungen zu buddeln. Jedes Amt wird mit neuer Hardware ausgestattet. Es gibt eine Software, die Bund, Land, Kommunen problemlos vernetzt, wenn sie Informationen zu Klima, Verkehr, dem Infektionsgeschehen teilen. Ohne viel Aufwand, mit einer Schulung, damit alle wissen, wie es geht. Der Datenaustausch ist nicht verpönt, sondern im Sinne der Ver­brau­che­r:in­nen anonymisiert und orientiert sich an einem schöneren digitalen Leben. Die Tech-Giganten machen auch mit. Immerhin ist das auch ihr Anliegen. Es gelten klare Regeln mit Strafen und Bußgeldern – aber die sind gar nicht nötig. Ist doch klar, warum die Nut­ze­r:in­nen gut behandelt werden müssen und nicht manipuliert und ausgenutzt.

Weil Netz­ak­ti­vis­t:in­nen und IT-Sicherheitsexpert:innen seit Jahren wissen, wie das Netz sicher und doch offen sein kann, bleiben sie nicht in der Nische, sondern stehen an vorderster Front, wenn Sicherheitslücken entstehen, um gemeinsam Seite an Seite mit den Menschen in den Behörden Cyberangriffe abzuwehren. Wer in den sozialen Medien angemosert wird, bekommt von der Netzgemeinde mindestens ein Herz geschickt. Der Hass läuft ins Leere, verschwindet im Meer der Solidarität. Es wäre ein Riesenschritt in die Zukunft und gleichzeitig die Rückkehr zur Grundidee des Internets, der Netzgemeinde, der Entwickler:innen, die die digitale Welt bauen. Der Traum einer schönen digitalen Welt ist kein Hirngespinst. Er ist nur sehr zerbrechlich.

Noch ist das Rennen um die Artenvielfalt nicht verloren

Ach, kleiner Schmetterling, du bist so schön! Früher gab es mehr von deiner Art. Kommen wir da wieder hin? Foto: Ute Grabowsky/photothek/imago

Von Heike Holdinghausen

Einen Marathonlauf ohne Ziel – das hat Corona aus der wichtigsten Weltnaturschutzkonferenz seit Jahren gemacht. Sich immer wieder neu für die Verhandlungen zu motivieren, sei herausfordernd, heißt es aus Zivilgesellschaft und Wissenschaft, aber das sei okay. Schließlich gehe es um viel, nämlich um die Rettung der Vielfalt des Lebens. Eigentlich sollten sich die Mitgliedsstaaten der Biodiversitätskonvention (CBD) im Herbst 2020 im chinesischen Kunming versammeln und ein neues Abkommen beschließen. Die Pandemie verhinderte das. Seitdem gibt es immer neue Termine und immer neue Absagen. Die neueste: Die wichtigen Vorverhandlungen, die für Januar in Genf angesetzt waren, sollen wegen der nahenden Omicron-Variante nun im Frühjahr, vielleicht Ende März stattfinden. Und einige Wochen oder Monate danach dann die große Mitgliedsstaatenkonferenz.

Die Biodiversitätskonvention soll 1. die biologische Vielfalt erhalten, 2. ihre nachhaltige Nutzung regeln und 3. Profite, die mit biologischer Vielfalt erzielt werden, gerecht verteilen, fasst Thilo Maack von Greenpeace das Übereinkommen zusammen. Um dorthin zu kommen, setzen sich die Staaten Ziele, die sie in einem Zehnjahres-Zeitraum verwirklichen wollen. Solche Ziele gab es bislang auch schon. Sie waren gut, wurden aber verfehlt. „Es wird künftig darum gehen, nicht nur klare Ziele zu formulieren, sondern auch genügend Geld zur Verfügung zu stellen, um sie zu erreichen“, sagt Maack, „sie regelmäßig zu überprüfen und am besten auch Sanktionsmechanismen einzubauen, wenn sie nicht erreicht werden.“ Es geht um starke Vereinbarungen. Russland und China führen in den Verhandlungen die Länder an, die ein schwaches Abkommen anstreben. Die EU wird von Beobachtern als progressiv eingeschätzt (und die USA sind als Nichtmitglied der Konvention nur Zuschauende).

Neidisch blicken die Artenschützer auf die Kollegen vom Klimaschutz. Seit den Verträgen von Paris haben die eine Zahl, die es einzuhalten gilt und an der sich politische Entscheidungen ausrichten können: 1,5 Grad. „Inzwischen gibt es in der Wirtschaft, im Finanzsektor und in der Politik Berichte, Maßnahmen und Richtlinien, um das 1,5-Grad-Ziel zu erreichen“, sagt Florian Titze vom WWF. „Klimaschutz ist notwendig, das haben die wesentlichen Akteure inzwischen mehrheitlich verstanden.“ Die Notwendigkeit, Biodiversität zu schützen, laufe hingegen in vielen wichtigen Bereichen noch unter dem Radar – „etwa im Finanzsektor“, sagt Titze. So werde im Zusammenhang mit Naturschutz meist über öffentliche Gelder gesprochen, etwa über den Abbau naturzerstörender Subventionen oder über Förderprogramme für den Artenschutz. „Bei Investitionen von Banken, Unternehmen oder Aktienfonds etwa in Projekte für Bergbau, Plantagen oder in Infrastruktur spielt Naturschutz so gut wie keine Rolle“, sagt Titze, „das muss sich ändern.“

Ein positives Beispiel sei etwa die EU-Taxonomie, die Kriterien für nachhaltige Anlagen aufstellt. Der Schutz der Biodiversität ist dabei einer von sechs Bereichen. Auch was die neue Bundesregierung in ihrem Koalitionsvertrag zum Thema Artenschutz geschrieben hat, liest sich für die Umweltorganisationen erst mal gut. Die Erwartungen an die „grüne Achse“ aus Landwirtschafts-, Umwelt-, Wirtschafts- und Außenministerium sind enorm. „Die Ampel wird nicht nur daran gemessen, ob mit ihrer Politik das 1,5-Grad-Ziel von Paris einzuhalten ist“, sagt Maack, „sondern auch daran, was sie gegen das Artensterben unternimmt.“

Um die Vielfalt der Arten und ihren Wert greifbarer zu machen, benutzen auch die Naturschützer inzwischen häufig eine Zahl: 30. 30 Prozent der Erde sollen, so steht es auch in den vorläufigen Verhandlungstexten, unter Schutz gestellt werden. In Europa bedeute das, extensiv genutzte Kulturlandschaften zu schützen, sagt Josef Settele vom Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung in Halle. Der renommierte Agrarökologe hat unter anderem an dem Bericht zur Lage der Arten und Ökosysteme mitgewirkt, der den Verhandlungen zur Biodiversitätskonvention zugrunde liegt. Eine echte Wildnis ohne jede menschliche Nutzung hält er in Deutschland nur für einen kleinen Teil der Fläche für sinnvoll. „Ganz überwiegend ist der Erhalt von extensiv genutzten Weideflächen, von Heiden oder Auenlandschaften gemeint“, sagt Settele. Auch an den wenigen Orten der Welt, wo noch intakte Urwälder vorkämen – etwa im Amazonas oder im Kongo –, lebten Menschen, deren Interessen geschützt werden müssten. „In den Regenwäldern haben die Menschen den Wald viel vorsichtiger beeinflusst“, sagt Settele, „auch hier können Totalreservate nicht das Ziel sein.“ Für die Natur sei der Mittelweg der beste: Pflanzen und Tiere müssten geschützt werden, der Mensch solle aber eine Rolle spielen.

Doch welche? Und wer darf beim Natur-Monopoly die Miete kassieren? Auch darum geht es bei den weit verästelten Verhandlungen über ein neues Abkommen im Rahmen der CBD. Im beschaulichen Gatersleben in der fruchtbaren Mitte Sachsen-Anhalts arbeitet der Agrarwissenschaftler Andreas Börner am Leibniz-Institut für Pflanzengenetik und Kulturpflanzenforschung (IPK). Auch er erwartet die Verhandlungen für ein neues Rahmenabkommen mit großem Interesse. Börner ist Herr über die Genbank der IPK, einer gewaltigen Sammlung von Samen. Rund 151.000 Samen von Gersten-, Roggen- und Weizensorten, von Erbsen, Linsen, Zwiebeln, Bohnen, Kohl, Salaten und Minzen überdauern in Einmachgläsern in einem großen Kühlraum bei Minus 18 Grad Celsius die Zeiten. Die Genbank des IPK, das ist so etwas wie das Gedächtnis der deutschen Kulturpflanzenzucht.

Jährlich wächst die Sammlung. Sorten, deren Zulassung beim Bundessortenamt in Hannover ausläuft und die von den Züchtern nicht mehr an Landwirte verkauft werden, wandern als Stichprobe nach Gatersleben. Der Schatz der Sammlung besteht aber in den alten Sorten, die schon seit den 1920er Jahren auf der ganzen Welt gesammelt und seit 1945 in Gatersleben aufbewahrt werden. „Diese Sammlungen wäre heute nicht mehr möglich“, sagt Börner. Früher schon, da brachen Expeditionen in die Mongolei auf, in den Iran, nach Albanien, Georgien, Tunesien oder Äthiopien und brachten von dort etwa Weizensorten mit, die in sehr heißen, trockenen Gebieten wuchsen: Gerstensorten, die auch mit geringen Mengen Salz auf dem Acker klarkamen.

Die neue „grüne Achse“ aus Landwirtschafts-, Umwelt-, Wirtschafts- und Außenministerium macht Hoffnung

In Gatersleben sammelte man einige Exemplare, trocknete, beschrieb, archivierte sie und krümelte ihre Samenproben in Einmachgläser. Heute beugen sich Biologen und Bioinformatiker über diese Samen, sequenzieren ihre Genome und machen sie digital verfügbar. Mit diesen Daten können Wissenschaftler und Firmen weltweit Pflanzen erforschen, verändern und vermarkten. Neue gentechnische Verfahren wie CRISPR/Cas beruhen auch darauf, dass das Erbgut von Pflanzen digital verfügbar ist. Ein Beispiel: Die Gaterslebener Wissenschaftler entschlüsseln das Genom der salztoleranten Gerstensorte aus dem Iran und veröffentlichen es auf einer Open-Source-Plattform. Mit diesen Informationen können Pflanzenzüchter Sorten entwickeln, die die Eigenschaften moderner Gerste mit der Salztoleranz der alten verbinden. Dank der neuen gentechnischen Methoden geht das schneller und preisgünstiger als früher. Doch: „Unter welchen Bedingungen dürfen wir das künftig?“, fragt Börner. „Müssen wir den Herkunftsländern einen Wertausgleich erstatten, wenn wir Sorten aus ihrem Gebiet sequenzieren?“

Dahinter steht die Frage, wem der Artenreichtum der Welt gehört. „Lokalen Bevölkerungsgruppen, Konzernen, Nationen?“, fragt Josef Settele. Bei den Verhandlungen gehe es auch um nationale Souveränität, um die gemeinschaftliche Nutzung öffentlicher Güter und das Machtgefälle zwischen dem Globalen Norden und dem Süden. Sowohl dem Schutz der Biodiversität als auch ihrer Nutzung liege ein „neokolonialistischer Diskurs“ zugrunde, sagt ­Settele. Den gelte es zu entschärfen. Zum Beispiel, indem die Bedürfnisse und auch das Wissen indigener Völker in die Berichte und Verhandlungen einflössen – und zwar sachlich. „Indigen ist nicht automatisch gut“, sagt der Wissenschaftler, „auch hier gilt es, nachhaltige von zerstörerischer Nutzung zu unterscheiden.“

Das Problem sei, sagt Greenpeace-Campagner Maack, dass China in den Verhandlungen zum neuen Abkommen relativ erfolgreich versuche, die Staaten des Globalen Südens um sich zu versammeln und ihre Interessen vorschiebe, um ein weniger starkes Abkommen durchzusetzen. Der Endlosmarathon kommt dem Land dabei offenbar durchaus gelegen.

Doch noch ist das Rennen offen: Bislang haben auch die Naturschützer einen langen Atem.