: Auf der Suche nach den inneren Werten
Ein durchgeknallter US-Amerikaner lädt zur Entdeckungsreise in den menschlichen Körper – nicht sprichwörtlich, sondern ganz buchstäblich, mit dem Messer. Bei ihm kann in sechs Tagen jeder lernen, wie Leichen seziert werden
VON ARIEL MAGNUS
„Dissection is an act of introspection.“ Sezieren ist ein Akt der Selbstbeobachtung. Mit diesem vielleicht nicht bekömmlichen, aber umso prägnanteren Satz als Motto und Lebensmaxime steht Dr. Gil Hedley seit mehr als einem Jahrzehnt an der Spitze des New-Age-Selbsterkennungswahns, dort, wo sich die so genannten Somanautics tummeln.
Bar jeder Metaphorik, buchstäblich bis der Arzt kommt, verstehen sich die Somanautics als eben das, was ihr Name besagt: Körper-Reisende: „Willkommen zu der faszinierenden inneren Reise der menschlichen Sektion“ begrüßt Hedley seine Mitreisenden unter www.somanautics.com: „Wir rücken als Somanauten zusammen, bereit und willig, die Landschaften und Meere des menschlichen Körpers zu erforschen und zu navigieren. Gerührt vom Wunder der Schöpfung wie ein Astronaut beim Überblick auf den himmlischen Körpers unseres Planeten aus dem Weltraum, wählen wir den Einblick in den Innenraum unseres eigenen himmlischen Körpers.“
So liest man im Handbuch zum „Workshop für menschliches Sezieren“, dessen Kapitel etwa „Vertraut werden mit den Leichen“ oder „Erforschung des viszeralen Raumes“ lauten. Das Seminar ist ein sechstägiger Crashkurs, bei dem Interessenten in die hohe Kunst der Leichenfledderung eingeweiht werden.
Erfunden wurde die Therapie 1994 von dem schon genannten Dr. Hedley – ’tschuldigung, fragen sich sicherlich die Neugierigen: „Doktor“ in was? Keine so abwegige Frage: Hedley ist tatsächlich kein Dr. med., er hat nicht einmal (abendländische) Medizin studiert. Den Titel holte sich der 42-jährige US-Amerikaner bei der „Divinity School“ der Universität von Chicago mit einer Dissertation „über Ehe-Ethik in der katholischen Kirche“. Seine irdischen Kenntnisse aber brachten ihm Thai-Chi-, Massage- und Psychodynamic-Kurse.
Dieser eklektische Werdegang gibt Hedleys eher gerichtsmedizinischem Fachgebiet seine spezifische Mystik: „Sezieren benötigt die Talente eines Metzgers und eines Künstlers“, erklärt Hedley: „Ich muss in meinen eigenen Tiefen fühlen, um die Tiefen eines anderen zu fühlen. Bitte vergesst nicht: Auch unter den Zen-Meistern gibt es Metzger.“
Für Hedley, der sich gern als „Student des Lebens“ präsentiert, wird somit jede Leiche zum Geschenk. „Ich betrachte mich als glücklich, am empfangenden Ende dieser Geschenke zu stehen“, stellt er seinen Sinn für schwarzen Humor unter Beweis: „Nun, Geschenke haben dieses gewisse Etwas: Sie werden überreicht, um geöffnet zu werden.“ Wie Überraschungseier auch seien Leichen, laut Hedley, „voll von Überraschungen! Verbring die ganze Woche damit, dein Geschenk auszuwickeln. Jeder Tag ist dein Geburtstag!“
Vorsichtshalber werden diese tollen Geburtstagsgeschenke vorher einbalsamiert und sechs bis zwölf Monate „geheilt“, anschließend an die freiwilligen Spender in Form von Asche zurückgegeben. Hedley betreibt ein „Schicht-für- Schicht-Sezieren“, das sich als integrale Anatomie versteht und mit der Hypothese arbeitet: „Wir sezieren Beziehungen.“ Und zwar nicht nur diejenigen, die die Leiche „als Nest und Netzwerk“ ausweisen, sondern vielmehr „deine inneren Beziehungen, die Verbindung zu neuen und alten Klassenkameraden, deine Leiche und Leichen anderer im Raum, die Dozenten und Gott weiß wer sonst“, denn dies alles bilde „ein externes Gewebe von Bedeutung, das dein Verständnis von anatomischen Zusammenhängen zu unvorstellbaren Tiefen und Höhen bringen kann!“.
Teamarbeit ist daher nicht nur erwünscht, sondern schlicht Verpflichtung: „Wenn du gekommen bist, um allein zu sezieren, dann stehst du in der falschen Klasse!“ Hedley holistisches Verfahren könnte man als uneheliche Tochter der Rezeptionsästhetiken des letzten Jahrhunderts auffassen: „Anatomie heißt wortwörtlich, mit dem Messer zu schneiden“, erklärt der wortspiellustige Doktor seine philosophischen Grundsätze: „Anatomie ist darüber hinaus ein Akt der Abstraktion. Abstraktion heißt ‚auszeichnen aus‘, also basiert Anatomie auf dem Studium des Aufschneidens eines Körpers mit einem Messer und des Auszeichnens von Organen aus ihrem ursprünglichen Ganzen. Diese Zeichnungen in den Texten der Anatomie, die wir zu lieben und zu bewundern gelernt haben, sind Abstraktionen, ja Idealisierungen. Sie vertreten die Ideen des Künstlers. Indem wir Anatomie studieren, offenbaren wir uns uns selbst. Obwohl du denken magst, dass du das, was da ist, offenbarst, hängt dieses ‚das, was da ist‘ von den Ideen ab, die du zum Sektionstisch mitbringst.“
Hedleys Schüler nehmen das ernst: „Die Leichen waren keine empfindungslose Datenträger“, schreibt etwa ein begeisterter Masseur im Besuchsbuch: „Sie machten mich zu ihrem Bild und umgekehrt. Ich sah sie innerhalb von mir selbst.“
Lust, bei diesen Körperwelten selbst Hand an zu legen? Kein Problem, potenzielle Schüler sind im Prinzip alle Interessierten, die über „persönliche Reife, professionellen Anstand, gute Gesundheit und physisches Durchhaltevermögen“ verfügen.
Erwünscht ist „Wissen über die Sprache der Anatomie und die Karte des menschlichen Körpers“, doch „vorherige Erfahrung beim Sezieren“ sei nicht erforderlich. Die regulären Kurse finden hauptsächlich in den Vereinigten Staaten und in Kanada statt, aber ab und zu auch in Europa. Sollte man 14 bis 28 Kumpels kennen, die den esoterisch angehauchten Schnippelsport zusammen ausüben wollen, arrangiert der Doktor einen speziellen Termin zum Kostenpunkt von 1.400 US-Dollar pro Person.
Für diejenigen aber, die aus geografischen oder finanziellen Gründen nicht imstande sind, die Workshops persönlich zu besuchen, erstellte Dr. Hedley – neben ein paar Büchern – eine zweistündige DVD, die man bequem und für nur 30 Dollar unter www.integralanatomy.com bestellen kann (im Netz sind zwei Meditationen als Audio-Downloads sogar kostenlos zu haben).
Dabei handelt sich allerdings nur um Teil 1, der nicht tiefer geht als die Haut, die dabei erforscht wird. Doch die folgenden Kurse versprechen viel: „Es waren unglaubliche 26 Tage, 280 Stunden im Labor, 112 in den letzten 8 Tagen, 17 am letzten Tag …“, meldet sich ein erschöpfter, aber glücklicher Dr. Hedley in einen seiner mehreren Blogs nach seinem letzten „Seziermarathon“.
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