Auf dem Weg zum „Anschluss“

Wer kämpft wofür?

Die Bilder, auf denen Zigtausende Be­la­rus­s*in­nen 2020 gegen die gefälschte Präsidentenwahl am 9. August und die Absetzung von Alexander Lukaschenko auf die Straßen gingen, gehören der Vergangenheit an. Das hat vor allem damit zu tun, dass das Regime mit einer nie da gewesenen Härte gegen seine Kri­ti­ke­r*in­nen vorgeht. Derzeit führt die belarussische Menschenrechtsorganisation Vjasna insgesamt 941 Personen als politische Gefangene (Stand von Mittwoch dieser Woche).

Wahllos ergehen Urteile mit drakonischen Haftstrafen von zehn Jahren und mehr: gegen Oppositionelle, Journalist*innen, Wis­senschaftler*innen, Künst­ler*in­nen, Sportler*innen, aber auch ganz normale Bür­ger*in­nen, die Kleidung in den Farben der Opposition tragen. Tausende haben Belarus verlassen, um sich aus dem Exil für demokratische Veränderungen in ­ihrem Land einzusetzen: die Ex-Präsidentschaftskandidatin Swetlana Tichanowskaja in Litauen oder der frühere belarussische Kulturminister Pawel Latuschko in Warschau.

Aber auch im Land selbst ist die Protestbewegung nicht vollständig verschwunden, sie hat nur andere Formen angenommen. Ein Beispiel dafür sind die sogenannten Cyber-Partisanen, die das Regime mit Hacker-Aktivitäten bloßstellen und in die Knie zwingen wollen.

Welche Rückschläge gab es?

Am 23. Mai 2021 ließ Lukaschenko ein Passagierflugzeug auf dem Weg von Athen nach Vilnius von einem belarussischen Kampfjet abfangen und zur Landung in Minsk zwingen. An Bord befand sich der Blogger und Aktivist Roman Protassewitsch, der umgehend festgenommen wurde. Das führte dem Westen vor Augen, dass der Autokrat auch vor schweren Verletzungen internationalen Rechts nicht mehr haltmacht.

Seit den Sommermonaten hat Lukaschenko überdies Tausende Mi­gran­t*in­nen ermuntert, aus Ländern des Nahen Ostens nach Minsk zu kommen, und sie von dort aus an die Grenzen zu Litauen und Polen bringen lassen. Mehrere Menschen sind bei dem Versuch, in die EU zu gelangen, gestorben. Lukaschenko nimmt das billigend in Kauf.

Mit dieser Aktion rächt sich der belarussische Machthaber für Strafmaßnahmen, die der Westen gegen sein Regime verhängt hat – vor allem sind dies Handelssanktionen, Einreiseverbote und eingeschränkter Kontoverkehr. Und er will die EU zwingen, mit ihm zu verhandeln – was im Fall der Altbundeskanzlerin Angela Merkel ja auch geklappt hat.

Lukaschenko schreckt auch vor Verletzungen internationalen Rechts nicht zurück

Wie geht es weiter?

Von den Sanktionen sind 183 Personen und 26 Organisationen betroffen. Doch ob die Maßnahmen etwas bewirken, ist fraglich. Unbeeindruckt davon soll am 28. Februar 2022 in Belarus ein Verfassungsreferendum stattfinden. Der Volksentscheid wird als Maßnahme verkauft, um die Machtverteilung zwischen den Staatsorganen neu zu regeln. In Wahrheit soll er Lukaschenkos Position absichern.

Oppositionelle sehen in dem Referendum einen weiteren Schritt, um die Vereinigung von Belarus mit Russland endgültig zu vollziehen. Dazu, so die Annahme, würden prorussische Parteien gegründet, die nach einer gefälschten Parlamentswahl für den „Anschluss“ stimmen würden. Kein abwegiges Szenario, denn bei mehreren Treffen Lukaschenkos mit Wladimir Putin einigten sich beide Seiten auf eine verstärkte Zusammenarbeit in zentralen Bereichen wie Verteidigung und Wirtschaft. Grundlage dafür ist ein Vertrag aus dem Jahre 1999, der einen russisch-belarussischen Unionsstaat vorsieht. Gut informierte Quellen wollen wissen, dass Russland bereits die Kontrolle über die belarussischen Sicherheitskräfte übernommen hat. Ob eine Eingemeindung die Proteste in dem Land wieder befeuern wird, ist offen. Barbara Oertel