Die „Luftnummer“

Kaum einer wusste davon: Ein Jahr lang hatte sich eine EU-Taskforce still und leise mit Terror-Risiken bei deutschen und europäischen Atomkraftwerken beschäftigt. Nicht einmal ihr Name war bekannt. Jetzt hat diese „Ad hoc Group on Nuclear Security“ einen Bericht vorgelegt, der sich tatsächlich mit keinem einzigen Kernkraftwerk auseinandersetzt. Keine Rede von Risiken etwa im baden-württembergischen Atomkraftwerk Philippsburg, das immer noch nicht gegen einen Flugzeugabsturz ausgelegt ist. Dafür gibt's viel Lob für die Atomindustrie und deren „gute Praktiken“. Das Ergebnis und seine Vorgeschichte sind haarsträubend

von Meinrad Heck

Das Szenario klang düster. Es war die Zeit nach dem verheerenden 11. September 2001 mit den tödlichen Terroranschlägen in den USA, und die Deutschen wollten wissen, was denn Flugzeuge anrichten könnten, sollten sie zufällig oder terroristisch gezielt auf ein Kernkraftwerk stürzen. Die Antwort musste schnell kommen. Es galt seinerzeit einer beunruhigten Öffentlichkeit zu erklären, was in Deutschland am besten nicht passieren könnte. Aber die Antwort der Reaktorsicherheitskommission klang düster. Ein riesiges Verkehrsflugzeug, das auf ein Kernkraftwerk stürzt, wäre ein Albtraum mit unabsehbaren Folgen.

„Es bleibt offen“, schrieben die Reaktor-Experten seinerzeit in einem Dokument RSK 344, „ob bei einem solchen Ereignis die maximal auftretenden mechanischen Belastungen ohne größere Schäden abgetragen werden können und alle zur Beherrschung des Ereignisses benötigten Systeme funktionsfähig bleiben.“ Und weiter heißt es in dem mittlerweile mehr als zehn Jahre alten Papier: „Ohne vertiefende Analysen, die auch die anlagenspezifischen Auslegungen und sonstigen Schutzgrade der jeweiligen Anlagen berücksichtigen, sind verlässliche Aussagen zu Schadenszuständen nicht möglich. Abhängig vom Schutzgrad der jeweiligen Anlage sind im Einzelfall auch massive Freisetzungen radioaktiver Stoffe nicht auszuschließen.“

Im gleichen Zusammenhang wollte das Bundesumweltministerium seinerzeit noch wissen, welche „kurzfristigen Möglichkeiten“ es denn gebe, um „das Schadensausmaß für den Fall eines solchen Absturzes zu verringern“. Entwarnung konnten die Reaktorsicherheitsexperten – damals wie heute – allerdings nicht geben. Wörtlich heißt es in ihrem Papier: „Als kurzfristig realisierbare Möglichkeit ist im Bedrohungsfall das Abfahren der Anlagen in den kalten, unterkritischen Zustand durchführbar. Durch die nach der Abschaltung verminderte Nachzerfallsleistung und die bereits kalten, drucklosen Systeme stehen längere Karenzzeiten für Notfallmaßnahmen zur Verfügung. Offen bleibt die Frage, welche Maßnahmen nach einem derartigen Ereignis aufgrund der zu erwartenden Beschädigungen der Anlage möglich sind.“

„Keine Auslegung gegen ein Verkehrsflugzeug“

Knapp zehn Jahre später muss die Reaktorsicherheitskommission wieder kritische Fragen beantworten. Im Mai 2011 sind die Tsunami-Katastrophe und Kernschmelze in Fukushima der Auslöser. Wieder geht es auch um den Absturz großer Verkehrsflugzeuge, und seit 2001 hat sich nichts geändert. Bezogen auf Baden-Württemberg erklärt die RSK, beim EnBW-Meiler Neckarwestheim 2 gebe es „keine Auslegung gegen ein großes Verkehrsflugzeug“. Und Aussagen des Betreibers über die Beherrschung eines Treibstoffbrands auf dem Kraftwerksgelände „liegen nicht vor“. Bei dem betreffenden Meiler handelt es sich übrigens um den, der immer noch am Netz ist.

Gleiches gilt für Philippsburg. Der heute noch aktive Block 2 liegt in unmittelbarer Nähe der Südabflugsroute vom Flughafen Frankfurt. Täglich passieren dutzende von Verkehrsjets dieses Kernkraftwerk in einer Entfernung von knapp 1,5 Kilometer und einer Höhe zwischen 4.800 und 7.000 Meter (siehe das Foto oben). Beim Reaktor Philippsburg 2 gibt es dem RSK-Dokument 437 vom 16. Mai letzten Jahres zufolge ebenfalls „keine Auslegung gegen ein großes Verkehrsflugzeug“, im Gegensatz zu Neckarwestheim nicht einmal gegen einen Jet von nur mittlerer Größe. Ob Treibstoffbrände beherrschbar bleiben, ist ebenfalls offen. Beruhigen – wenn überhaupt – mag allenfalls die Formulierung, dass bei beiden Reaktoren Nachuntersuchungen der Gesellschaft für Reaktorsicherheit ergeben hätten, dass im Fall der unterstellten Abstürze „die Struktur des Reaktorgebäudes erhalten bleibt“.

Etwas mehr tiefergehende Details hatte man sich 2011 auch von einem EU-weiten Stresstest erhofft, für den sich seinerzeit der frühere baden-württembergische Ministerpräsident und jetzige EU-Energiekommissar Günther Oettinger starkgemacht hatte. Terrorgefahren und Flugzeugabstürze sollten untersucht werden. Das aber hatten sich mehrere Länder mit Bezug auf ihre nationalen Sicherheitsinteressen verbeten. Also installierte der Europäische Rat im Juli 2011 in Windeseile eine „Ad hoc Group on Nuclear Security“, die sich mit diesen brisanten Themen befassen sollte.

Das tat sie auch, meist im Geheimen. Für die Öffentlichkeit war nur ihr Ende Mai 2012 veröffentlichter Abschlussbericht bestimmt, für den sich kaum einer interessierte. Das Desinteresse ist nachvollziehbar, denn nach Lektüre des 49-seitigen Dokuments ist der Leser auch nicht viel klüger als vorher. Diese Ad-hoc-Gruppe hatte kein einziges Kraftwerk besucht. Dafür hatte sie sich aus der Distanz mit „Methoden zur Evaluation der Vorsorgemaßnahmen für geplante und existierende Kernkraftwerke“ beschäftigt und dabei eine „gute Praxis identifiziert“.

So viel leere Worthülsen bei einer behördlichen Arbeit zu Terrorgefahren auf 49 Seiten Papier hält die atompolitische Sprecherin der Bundestagsgrünen, Sylvia Kotting-Uhl, für „unglaublich oberflächlich“. Gegenüber der Kontext:Wochenzeitung bemängelte Kotting-Uhl, es seien weder konkrete Anlagen untersucht worden noch vertrauliche Unterlagen. Doch gerade solche Papiere seien „wesentlich“. Tatsächlich gibt es neben dem jetzt veröffentlichten und kritisierten Bericht der Ad-hoc-Gruppe zu Terrorgefahren noch weitere Unterlagen im EU-Archiv. Der Inhalt dieser Dokumente ist jedoch ausdrücklich „nicht zugänglich“. Die Kontext:Wochenzeitung hat deshalb die Freigabe dieser Papiere beantragt. Eine Antwort steht noch aus.

Mandat ist erfüllt, Material völlig unbrauchbar

Also müssen sich kritische Beobachter mit dem vorliegenden Material beschäftigen. Und das, so die Grünen, sei „erschreckend“ und „völlig unbrauchbar“. Die Bundesregierung hingegen hatte die Ergebnisse in der Antwort auf eine Grünen-Anfrage ausdrücklich verteidigt und erklärt, das Mandat der Ad-hoc-Gruppe sei „erfüllt“.

Die Autoren der EU-Gruppe räumen allerdings ein, dass die Sicherung von Atomanlagen eben nicht nur in nationaler Verantwortung erfolgen kann. Dies umzusetzen, dafür gibt es laut Bundesregierung aber „keinen Zeitplan“. Damit bleibt das Thema Terror-Risiken und Absturzszenarien für die Grünen auf EU-Ebene „eine verharmlosende Luftnummer“. Jedenfalls bis zum Beweis des Gegenteils. Bis dahin laufen die Kernkraftwerke weiter, und die Jets dürfen in unmittelbarer Nähe fliegen.