schlechtes vorbild
: Göttingen scheint die am wenigsten nachhaltige Stadt Deutschlands zu sein

Gute Sachen schlecht zu machen, kann erheblichen Schaden anrichten. Und zwar umso mehr, je größer man es aufzieht. Nachhaltigkeit ist unstreitig etwas Feines, dagegen kann niemand etwas haben, und der Deutsche Nachhaltigkeitspreis (DNP) ist die größte Auszeichnung ihrer Art in Europa. Glückwunsch also auf diesem Wege nach Stuttgart!

Denn mittlerweile kann man an ein paar Stellen der baden-württembergischen Landeshauptstadt wieder atmen, ohne die Gesundheit aufs Spiel zu setzen, nachts und sofern man weit weg von der Chaosbaustelle im Zentrum die Hänge erklommen hat. Klingt nach normal, ist aber eine rasante Verbesserung, so dass der Deutsche Nachhaltigkeitspreis 2021 in der Kategorie Großstädte dorthin ging.

Nur wer ganz schlecht ist, kann wirklich große Fortschritte machen. Also ist Stuttgart laut Veranstalter 2021 die „nachhaltigste Großstadt Deutschlands“, Bottrop die zweitnachhaltigste. Und in Göttingen wird über Bronze gejubelt. „Dass wir unter die ersten drei gekommen sind, ist eine tolle Anerkennung für die Stadt“, zitiert die Hessische Niedersächsische Allgemeine Oberbürgermeisterin Petra Broistedt. Sie freue sich riesig. Freude: Immer gut, aber was heißt unter die ersten drei? Die ersten drei von …?

Darüber müsste der Veranstalter doch Auskunft geben können. Denn anders, als der Superlativ suggeriert, werden nicht alle 80 Großstädte von Aachen bis Würzburg evaluiert, um jedes Jahr aufs Neue festzustellen, wer die meiste Strecke in Richtung UN-Millenniumsziele zurückgelegt hat. Der Nachhaltigkeitspreis ist, obwohl Nachhaltigkeits- und Konkurrenzdenken nicht zusammengehören, ein Wettbewerb. Dessen Teil­neh­me­r*in­nen melden sich freiwillig. Nun ist Transparenz kein eigenständiges Sustainable Development Goal, aber Bedingung für alle: Ohne klare, nachvollziehbare, zugängliche Daten, also ohne Transparenz gibt es keine Nachhaltigkeit. Also beim Trägerverein anrufen, gefragt: Wie viele Bewerbungen gab’s denn?

Oh, ach, nein, leider, nein, ist gerade niemand da, der über dieses profunde Wissen verfügt. Also gemailt: „Könnten Sie uns bitte mitteilen, wie viele Bewerbungen es in diesem Jahr in der Kategorie Großstädte gegeben hat?“ Es gibt nämlich zig unterschiedliche Kategorien, für Unternehmen, für Verpackung, für Blabla und für Architektur, oft mit Unterkategorien, da musst du präzise sein.

Die Antwort des DNP bleibt aus. Erst nach einem erneuten Anruf und einer weiteren Mail einen Tag später wird nach erneut acht Stunden reagiert. Nicht: geantwortet. Vielmehr wird darüber informiert, dass es „insgesamt in diesem Jahr rund 1.200 Bewerber auf alle Wettbewerbe“ gegeben habe. Mit dieser Auskunft hoffe sie, so die Verfasserin weiter, geholfen zu haben.

Worauf ihre Hoffnung gründet? Unklar. Aber vielleicht muss die Frage noch einfacher, noch direkter, noch klarer formuliert werden. Also: „Wie viele Großstädte haben sich im Jahr 2021 um den Deutschen Nachhaltigkeitspreis in der Kategorie Großstädte beworben?“

Die Antwort gibt es nicht. Man wolle sich durchs Verschweigen dem rat race steigender und fallender Teilnehmerzahlen entziehen, lautet, fadenscheinig, die Begründung: Warum macht man dann einen Wettbewerb, wenn man ihn für ein quälendes Hamsterrad hält?

Allerdings, wenn am Ende noch rauskäme, dass Göttingen in der Logik des Preises als Deutschlands am wenigsten nachhaltige Großstadt gelten muss, wie unfair wäre das – und wie peinlich. Und wie nachhaltig deprimierend.

Benno Schirrmeister