Liebe und Anarchie

Sie ist die erste Frau, die für den Regie-Oscar nominiert wurde: Die italienische Filmemacherin Lina Wertmüller ist tot. Ihre große Kunst bestand darin, Alltägliches zu überhöhen

Lina Wertmüller (1928–2021) Foto: ap

Von Fabian Tietke

Mittagszeit in einer Kleinstadt in Apulien. Rhythmisch klappert das Besteck auf den Tellern. Der Familienvater wischt sich mit der Serviette über den Mund, steht wortlos auf. Das Essen ist vorbei, Zeit für die Mittagsruhe. Mit offenen Augen liegt die Tochter auf dem Bett. „Hier bei uns ist das so Brauch, nach dem Essen legen sich alle zur Ruhe. Ich schlafe nicht, in meinem Kopf kreisen Fragen ohne Antworten.“

In aller Kürze etablierte Lina Wertmüller schon in ihrem ersten Film, „I basilischi“ („Die Basilisken“, 1963) die Spannung zwischen patriarchalen Gesellschafts­strukturen und den weiblichen Figuren, die alle ihre Filme bevölkern sollten. Auf das Filmdebüt folgten knapp 30 Filme, diverse Drehbücher, 4 Romane und unzählige Theater- und Operninszenierungen. 1976 war sie mit „Pasqualino settebellezze“ die erste Frau, die für den Regie-Oscar nominiert wurde, 2019 erhielt sie den Oscar für ihr Lebenswerk. In der Nacht auf Donnerstag ist Wertmüller 93-jährig in Rom gestorben.

1973, ein anderes Mittagessen. Den Bauern Tunin hat es unter die Anarchisten verschlagen, nach Rom verschlagen, in ein Edelbordell verschlagen. Verschüchtert sitzt er zwischen den scherzenden Sexarbeiterinnen. Ein Attentat auf Mussolini soll er machen, doch er verschläft. „Film d’amore e d’anarchia“ (Liebe und Anarchie) entlarvt die Aufgeblasenheit des Faschismus und männlicher Helden gleichermaßen.

Die große Kunst Wertmüllers bestand darin, Alltägliches in der Inszenierung zu überhöhen und so in einen Mikrokosmos der Gesellschaft zu überführen. Wenige Regisseur_innen der europäischen Filmgeschichte der Nachkriegszeit haben es verstanden, politische Debatten bis in Details der Filme ästhetisch, inszenatorisch so zu verarbeiten wie Wertmüller. Ende der 1990er Jahre begann ihre künstlerische Stimme zu verstummen. Ihr Tod hinterlässt eine klaffende Lücke.