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Unsinn di­cker Bücher

Martin Kieren legt mit „Die zwei­hundert Bücher zur Architektur“ seine ganz eigene Vorstellung von Architekturtheorie dar

Von Brigitte Werneburg

„Die zweihundert Bücher zur Architektur“ im Titel von Martin Kierens Neuerscheinung bei Wasmuth, sie meinen nicht eine Auflistung und Kommentierung der grundlegenden kanonischen Fachliteratur. Sie stehen vielmehr für sämtliche Lektüren, die unseren, für die taz wiedergewonnenen Autor – weil als Professor für Baugeschichte und Architekturtheorie an der BHT University of Applied Sciences inzwischen emeritiert – in seinem Nachdenken über Architektur angeregt haben.

Dieses Nachdenken findet dann in Form von 200 mittig auf die Seite gesetzten Fünfzeilern seinen Ausdruck. Dazwischengestreut ist ein Block mit Räume genannten Essayminiaturen, 25 an der Zahl, eine editorische Notiz, ein Schlussbild und die Referenzen I und II. Letztere bestehen aus einer einzigen, sich am Ende des hochästhetisch gestalteten Bandes über zwei Seiten hinziehenden Zeile, in der die Namen der Kieren inspirierenden Autoren gelistet sind: angefangen mit Leo Adler über Jorge Luis Borges, Franz Kafka bis hin zu Peter Zumthor.

Die Referenzen I zitieren einzelne dieser Autoren. Und dort findet sich auch der Ratschlag von Jorge Luis Borges, den Kieren bei der Struktur seines Bandes wohl beherzigt hat: „Ein … Unsinn ist es, dicke Bücher zu verfassen; auf fünfhundert Seiten einen Gedanken auszuwalzen, dessen vollkommen ausreichende Darlegung wenige Minuten beansprucht. Ein besseres Verfahren ist es, so zu tun, als gäbe es diese Bücher bereits, und ein Resümee, einen Kommentar vorzulegen.“

So wie die Fünfzeiler nun in der Mitte der Seite stehen, schauen sie freilich nicht nach einem Kommentar oder Resümee aus. Sie treten wie Gedichte auf und sind dabei Poietik im ursprünglichen Sinn einer Wissenschaft oder Lehre des Schaffens und Gestaltens; als Denkbilder zur Baukunst, als eine Art erweiterte Haikus der Architekturtheorie. „Architektur als Überwindung der Leere. / Diese erkennen, als Ausgangspunkt wählen. / In dem Dazwischen liegt im Grunde alles / Die Leere daher – muss die Objekte immer / Beherrschen, nicht umgekehrt. Was fatal wäre.“

So geht eine der Denkfiguren, die nicht ohne Pathos auskommen, wie die folgende zeigt: „Architektur als Gehäuse alles Licht der Welt /Zu sammeln in ihren Räumen. Es sorgfältig / ­Einzuhausen – um es zu aktivieren; alsdann / Die Räume zu entriegeln und aufzuschließen, / Das Licht entströmen zu lassen. Wo es herkam.“

Alle Texte lassen sich in beliebiger Reihenfolge lesen, jeder Fünfzeiler könnte am Beginn stehen, jede andere Ordnung kann vom Leser und der Leserin selbst hergestellt werden. Am Ende aber fügen sich „Die zweihundert Bücher zur Architektur“ für die einen zu einem streitbaren Manifest, für die anderen zu einem meditativen säkularen Stundenbuch. Ein Widerspruch ist das nicht.

Martin Kieren: „Die zweihundert Bücher zur Architektur. De Re Aedificatoria. Eine Poietik“. Wasmuth & Zohlen, Berlin 2021, 42 Euro

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