: „Frauen vor und hinter der Kamera“
Zwischen Punk-Attitüde und Noch-nie-gehört: In Hamburg beginnt das Musikfilmfestival „Unerhört!“ – nach einem Jahr im digitalen Ausnahmezustand wieder richtig im Kino. Über männerdominierte Branchen, kooperationsunwillige Stars und die ersten Musikfilme unter dem Eindruck der Pandemie sprach die taz mit Festivalleiter Ralf Schulze
Interview Wilfried Hippen
taz: Herr Schulze, in Ihrer Selbstdarstellung steht, „Unerhört!“ sei das erste Musikfilmfestival überhaupt. Stimmt das denn auch?
Ralf Schulze: Im ersten Jahr 2007 waren wir tatsächlich die ersten in Deutschland. Damals war dieses Genre auf Festivals noch unterrepräsentiert.
Und im Rest der Welt?
Ralf Schulze
57, ist promovierter Volkswirt und Medienunternehmer. 2007 initiierte er das Unerhört! Musikfilmfestival, das er bis heute leitet.
Weltweit gab es nicht mehr als ein halbes Dutzend Festivals, die Musik in unterschiedlichen Darstellungen zum Publikum gebracht haben.
Sie zeigen diesmal insgesamt 15 Filme, unter anderem über Klassik und Jazz, Underground-Pop und experimentelle Musik. Was ist Ihnen bei der Zusammenstellung des Programms wichtiger: die besten Musikfilme zu zeigen – oder ein möglichst großes Spektrum musikalischer Genres ?
In diesem Jahr wurden bei uns 180 Filme eingereicht, und als Kurator*innen wollen wir ein Schaufenster auf möglichst viele verschiedene Musikszenen und Künstler*innen bietet. Wir verstehen uns dabei nicht als Profitgeneratoren. Vor zwei Jahren haben wir den Konzertfilm mit Aretha Franklin gezeigt, und da war das Kino natürlich voll. Aber uns ist wichtiger, Filme über schräge und abseitige Themen vorzustellen, denen man ihre Produktionsbedingungen ansieht und die mit wenig Geld, aber viel Herzblut gemacht wurden. Da kommen dann zwar nicht so viele, aber über die Jahre hatten wir über 13.000 Besucher*innen. Und es gibt ein treues Stammpublikum. Der Festivalname hat ja einen doppelten Sinn: Da ist die provokante Punk-Attitüde, aber auch das „noch nie gehört“.
Was ist im diesjährigen Programm ein besonders ungewöhnlicher Film?
Der Belgier Gwenaäl Breës hat mit „In a Silent Way“ ein Porträt der Popgruppe „Talk Talk“ gemacht, obwohl er die Musikrechte für deren Songs nicht bekam und der Leadsänger Mark Hollis jede Zusammenarbeit verweigerte. Das wird im Film selbst thematisiert: Wenn Breës einem ehemaligen Bandmitglied einen entsprechenden Brief von Hollis vorliest – und der andere sagt: „Dann hast du aber ein Problem mit deinem Film.“
Bei aller Vielfalt: Gibt es nicht doch Schwerpunkte bei der Filmauswahl ?
Ja, das sind Frauen vor und hinter der Kamera. Sowohl der Film wie auch die Musik sind ja immer noch männerorientierte Branchen. Unsere Jurys sind zwar zu 50 Prozent mit Frauen besetzt, aber bei den Filmen hängt das Verhältnis noch bei 30 Prozent. Immerhin ist unser Eröffnungsfilm heute Abend „Lydia Lunch – The War Is Never Over“ von Beth B über die umstrittene New Yorker Performancekünstlerin. Außerdem haben wir mit „Fanny: The Right to Rock“ von Bobbi Jo Hart ein solides Rockmachwerk über die Frauenband im Programm, von der David Bowie sagte, sein Lebensziel wäre es gewesen, sie wiederzubeleben. Und „The Conductor“ von Bernadette Wegenstein ist eine Dokumentation über Marin Aslop: die erste Frau, die ein großes Symphonie-Orchester dirigiert hat.
Im vergangenen Jahr fand das Festival wegen Corona nur in einer digitalen Notausgabe statt. Gibt es schon Filme über Musik in den Zeiten der Pandemie ?
Ja, wir haben „Aus den 84 Tagen“ im Programm. Darin geht es um 25 junge Musiker*innen aus Bolivien, die im März 2020 auf einer Konzerttournee durch Europa ihre Experimentalmusik auf indigenen Instrumenten vorstellen wollten und nach dem Lockdown saßen sie dann im tiefsten Mecklenburg-Vorpommern fest. Gedreht hat ihn der Hamburger Filmemacher Philipp Hartmann, von dem wir über die Jahre schon einige interessante Musikdokumentationen im Programm hatten.
Unerhört! Musikfilmfestival: bis Sa, 13. 11., Hamburg, Metropolis, B-Movie und 3001 Kino
www.unerhoert-filmfest.de
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