: All die schönen Dinge
Das Hamburger Museum für Kunst und Gewerbe entdeckt die Fotografin Hildegard Heise neu – und lässt eine Leerstelle in ihrer Biografie offen
Von Falk Schreiber
Das zentrale Bild der Hildegard-Heise-Ausstellung im Hamburger Museum für Kunst und Gewerbe ist nicht von Hildegard Heise. Und es ist auch keine Fotografie, trotz des programmatischen Ausstellungstitels „Hildegard Heise: Fotografin“. Das zentrale Bild ist ein Ölgemälde, und die Fotografin steht nur Modell auf dem „Bildnis Hildegard Heise“, 1927 gemalt von Anita Rée.
Das Bild ist deshalb zentral, weil sich anhand seiner ziemlich viel über Heise erzählen lässt. Einerseits, wie eng die Fotografin in avantgardistische Kunstkreise der Weimarer Republik integriert war. Andererseits, wie sich ihre eigene künstlerische Sprache in der von Rée dokumentierten Selbststilisierung abbildet: Der Humor, die strenge Genauigkeit, das genderqueere Rollenspiel ihrer Fotografien finden sich wieder in Heises eigenem, leicht spöttischen Lächeln, in den markanten Gesichtszügen, womöglich sogar in der harten Form des schnurgeraden Mittelscheitels.
Rée allerdings stiehlt Heise nicht die Schau – zwar ist die Malerin die heute bekanntere Künstlerin, allerdings wurde auch sie erst vor relativ kurzem als bedeutende Avantgardistin wiederentdeckt – nachdem sie nach ihrem Suizid im Jahr 1933 lange in Vergessenheit geraten war. Dementsprechend ist der Ausstellungsaufbau eher die Einordnung in eine Kunsttradition, die klarstellt, dass man auch Heises Bedeutung spät würdigen kann – zumindest, wenn das mit Rée möglich ist.
Hildegard Heise, geboren 1897 als Tochter des Lübecker Bürgermeisters Johann Martin Andreas Naumann in hanseatisch-großbürgerliche Verhältnisse, ausgebildet zur Kindergärtnerin, Säuglingsschwester und Fürsorgerin, verheiratet mit Carl Georg Heise, dem damaligen Direktor des Lübecker Museums für Kunst und Kulturgeschichte. In den 1920er-Jahren entdeckt sie ihr Talent für die Fotografie, studiert ab 1927 unter anderem bei Albert Renger-Patzsch. Bald erarbeitet sie erste Serien im Genre der Sachfotografie: geometrisch genau komponierte Objektarrangements wie die Schwimmhäuschen in „Badecarren, Carolles“ an der französischen Kanalküste (1928–33) oder „Rathaustürme, Lübeck“ (1932), das dem würdigen Backsteinmittelalter ein vordergründiges Gewimmel von acht Spitztürmchen gegenüberstellt.
Die Sachfotografie bleibt das einzige originäre Sujet Heises, darüber hinaus arbeitet sie an etablierten Formen; die Hamburger Ausstellung zeigt Bilder norddeutscher Marschlandschaften, Hafenarbeiter, Künstlerfreund*innen, immer mit Blick fürs Detail, immer mit technischer Meisterschaft. Aber ob diese Meisterschaft jetzt eine „Deichlandschaft bei Emden“ (vor 1937) zeigt oder „Siegfried Leber, Kuhhirte in Neuendorf auf Hiddensee“ (1934–38), tritt in den Hintergrund: Heise bildet im Grunde weiterhin Dinge ab, die mit großer Tiefenschärfe als detailreicher Silbergelatineprint zu sehen sind.
Mensch und Landschaft als Dinge
Und ja, sie sehen toll aus, die schönen Menschen, die schönen Landschaften. Man vollzieht den Blick Heises nach, man freut sich über das Können der Fotografin, und kurz stockt man angesichts der Jahreszahlen: Ab 1934 erstellt Heise ein umfangreiches Stadtporträt der ostfriesischen Hafenstadt Emden, 1937 reist sie mit ihrem Mann in die Karibik, um dort eine beeindruckende Reisereportage zu fotografieren. Was sind das eigentlich für Lebensumstände? Und wo steht Heise politisch? Carl Georg Heise fällt schon 1933 als Förderer der Avantgarde in Ungnade und verliert seine Arbeit als Lübecker Museumsdirektor, außerdem ist er kurz in Haft, wohl auch wegen seiner Homosexualität.
Aber Hildegard Heise ist weiterhin künstlerisch tätig, veröffentlicht auch. Ob sie in der Reichsschrifttumskammer ist? Das ist unklar, sagt Esther Ruelfs, Leiterin der Sammlung Fotografie und Neue Medien am Museum, mit Blick auf den wenig ergiebigen Stand der Forschung. Belastet ist das Ehepaar jedenfalls nicht: Nach 1945 übernimmt Carl Georg Heise die Leitung der Hamburger Kunsthalle. Dennoch scheint hier eine Leerstelle auf, die diese Ausstellung nicht zu füllen vermag.
Fotografieren bis zum Schluss
Nach dem Krieg zieht sich Hildegard Heise nach und nach aus dem Kunstbetrieb zurück, fotografiert aber immer noch. Die Ausstellung dokumentiert auch diese Phase, dank der Tatsache, dass sich Heises Nachlass in den Beständen des Museums befindet. Allerdings berührt diese kuratorische Entscheidung ein heikles Feld: Was ist hier eigentlich individueller künstlerischer Ausdruck, was einfaches Fotografieren aus Lust, wenn die gezeigten Arbeiten nicht mehr in erster Linie zur Präsentation gedacht sind? Die sensible Studie über die befreundete Familie Küstermann, Freizeitbilder an der Ostsee, Freude, Melancholie, Heu in der warmen Mittagssonne? Die Landschaftsaufnahmen, Baumstudien, die in ihrer Detailgenauigkeit zurückführen zur frühen Sachfotografie? Die Architekturfotos aus dem Alterssitz des Paares im oberbayerischen Nußdorf am Inn? Die ersten Gehversuche mit der Farbfotografie, 1970 im New Yorker Central Park?
In der Ausstellung rattert ein riesiger Diaprojektor, hier sind Fotos aus den letzten Lebensjahren der Künstlerin zu sehen: Gletscher, Dünen, schließlich Wolkenstudien, die Heise aus ihrem Zimmer in einem Möllner Altenstift gemacht hat, kurz vor ihrem Tod 1979. Das sind keine normalen Dias, wie man sie im Urlaub macht, es sind Großformate, die einen speziellen Projektor benötigen. Und weil die Ausstellung dieses altertümlich wirkende Ungetüm für die Präsentation einsetzt, wird auch klar, dass Heise wohl bis ins hohe Alter über die Hobbyfotografie hinaus gedacht hat: als technisch hochtalentierte Avantgardistin, deren Werk noch seiner Entdeckung harrt. Auch, damit weiße Flecken ausgeleuchtet werden können.
Hildegard Heise: Fotografin. Bis 20. 3. 2022, Hamburg, Museum für Kunst und Gewerbe
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