Irakische Sadristen haben die Nase vorn

Der Sieg des Geistlichen Muktada al-Sadr polarisiert die Schiiten im Irak. Proiranische Gruppen kündigen an, den Wahlausgang nicht zu akzeptieren

Feierten bis spät in die Nacht auf Dienstag: An­hän­ge­r*in­nen des schiitischen Geistlichen und Politikers Muktada al-Sadr in Nadschaf Foto: Alaa Al-Marjani/reuters

Aus Bagdad Karim El-Gawhary

Die Stimmen waren noch nicht vollständig ausgezählt, da feierten die Anhänger des schiitischen Geistlichen Muktada al-Sadr in der Nacht auf Dienstag schon in den Straßen, schwenkten Fahnen und zündeten Feuerwerk. Mit mindestens 70 Sitzen wird Sadrs Partei im künftigen Parlament die größte sein. Mehr als 20 Sitze hat sie hinzugewonnen.

Von Sadrs Programm fühlt sich offenbar die Mehrheit der schiitischen Wähler im Irak angezogen. Sadr grenzt sich vom Regime im Iran ab, auch wenn er selbst regelmäßiger Gast im Nachbarland ist. Doch Sadr gibt sich als irakischer Nationalist; außerdem äußerst er sich kritisch gegenüber den verbliebenen 2.500 US-Soldaten, die sich noch im Irak befinden. Ihren Abzug will er friedlich verhandeln.

In einer Rede sprach Sadr am Montagabend davon, für alle Iraker da zu sein, den Einfluss ausländischer Mächte einzugrenzen und für die Armen und Mittellosen zu sorgen. Er wandte sich gegen jene vom Iran gelenkten schiitischen Milizen im Land, die sich als „Widerstandsbewegung“ gegen die US-Besatzung sehen. „Selbst jene, die sich als Widerstand bezeichnen, sollten verstehen, dass die Menschen endlich in Frieden leben wollen, ohne Besatzung, Terrorismus, Milizen und Verschleppungen.“ Waffen sollten staatlichen Institutionen vorbehalten sein.

Besonders in den ärmeren schiitischen Vierteln Bagdads hat Sadr Anhänger. „Ich folge ihm, weil er sich um uns kümmert, gegen Korruption ist und dagegen, dass sich die Iraner in alles einmischen“, sagt Safaa, ein Tagelöhner im Armenviertel Sadr-City.

Was Sadr an Sitzen dazugewonnen hat, haben die dem Iran nahestehenden Parteien verloren. Sie sind die Verlierer der Wahl vom Sonntag – ein Grund, warum deren prominenter Vertreter Hadi al-Amiri die Wahlergebnisse anzweifelt: „Wir werden diese fabrizierten Ergebnisse nicht akzeptieren“, erklärte er am Dienstag. Auch Muhammad Muhi, Sprecher der irakischen Hisbollah, die dem Iran nahe steht, zweifelte den Wahlausgang gegenüber der taz an: „Die Ergebnisse reflektieren nicht den wirklichen Willen der Wähler. Es gab möglicherweise Wahlbetrug.“ Er griff indirekt auch Sadr an: „Wer es nicht zur aller wichtigsten Priorität macht, die US-Truppen zum Verlassen des Landes zu veranlassen, sondern stattdessen ein Ende des iranischen Einflusses im Irak fordert, wird damit Teil der US-Strategie.“

Eine Folge der Wahl könnte sein, dass sich die schiitische Politiklandschaft polarisiert, mit den eher nationalistischen Sadr-Anhängern auf der einen, den proiranischen Parteien auf der anderen Seite. Doch dürfte sich auch die Frage nach der Legitimität des Parlaments stellen. Die Wahlbeteiligung war mit 41 Prozent so niedrig wie nie.

In einem Wahllokal in Bagdad war es am Wahltag relativ leer und die wenigen, die kamen, hatten begrenzte Erwartungen. „Diese Wahl wird sicherlich nur kleine Veränderungen bringen, keine Umwälzung. Die traditionellen konfessionellen Parteien haben Geld, Anhänger und Waffen. Sie haben alles, was man braucht, damit eine Veränderung nicht leicht vonstatten geht“, prognostizierte der Wähler Hadi Abdelrazak.

Dass die meisten – vor allem jüngere Wähler – zu Hause blieben, hat damit zu tun, dass es die Protestbewegung nicht schaffte, sich zu organisieren. Nur rund ein Dutzend ihrer Vertreter haben es als Unabhängige ins Parlament geschafft. Einer der prominentesten ist Alaa al-Rikabi, der vor zwei Jahren die Protestbewegung in der schiitischen Stadt Nasserija anführte.

Sadr hat zwar die meisten Mandate errungen, muss nun aber eine Koalition schmieden, was Monate dauern kann. Dabei kann er die Kurden als Partner holen wie auch den stärksten sunnitische Block, die sogenannte Fortschrittskoalition des bisherigen Parlamentssprechers Mohammed al-Halbusi. Selbst die unabhängigen Reformkandidaten könnten sich als Königsmacher erweisen. Ist eine Koalition geschmiedet, muss sich diese auf einen Kompromisskandidaten als Regierungschef einigen. Sadr selbst sieht sich als Führer einer Bewegung, nicht als Akteur der irakischen Tagespolitik.