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Ein Flugzeug voller Doppelgänger

Die derzeitige Sau im Literaturdorf: Hervé Le Tellier gastiert mit seinem Roman „Die Anomalie“ in Hamburg

Romancier mit Faible für Regeln und Symbole: Hervé Le Tellier Foto: Vicente/Wikimedia Commons

Von Alexander Diehl

„Der wirkliche Pessimist weiß, dass es schon zu spät ist, um noch Pessimist zu sein“: Ein Satz, dem eigentlichen Text vorangestellt, wie das halt so ist in manchen Büchern. Wenn wir ihn lesen, sind wir, sozusagen noch vor der ersten Seite, aber schon mittendrin in dem Spiel, das Hervé Le Tellier mit seinen Lesenden spielt. Denn das Zitat, auch das steht da, stamme von einem Victør Miesel – aus einem Buch mit dem Titel „Die Anomalie“.

„Die Anomalie“ hat Le Tellier nun aber auch seinen eigenen Roman betitelt, diese letztjährige Sensation im französischen Literaturbetrieb. Und die sonderbare Schreibweise des – fiktiven – Autors des Buchs-im-Buch, Victør nicht einfach mit o, sondern „mit einem ø, das nichts anderes ist als das Symbol für eine leere Menge“? Könnte eine Anspielung sein auf den Umstand, dass Le Tellier selbst studierter – oder doch abgebrochener? – Mathematiker ist. Oder ein Romancier mit solcher Vorbildung nutzt einfach selbstverständlicher so ein Zeichen, wo andere Schreibende, sagen wir: einen bedeutungsschwangeren antiken Mythos heranziehen würden oder einen anspielungsreichen Begriff aus der Musik vielleicht.

Was auch Nicht­ma­the­ma­ti­ke­r_in­nen wissen können über so eine leere Menge – oder zumindest relativ rasch in Erfahrung bringen: Es kann davon nur eine geben. Etwas Gedoppeltes also und etwas, das nur ein einziges Mal existiert: Damit ist schon ganz gut umrissen, womit Le Tellier spielt in seinem Roman, für den er 2020 den bedeutenden Prix Goncourt erhielt; zu lesen war bereits, dass „Die Anomalie“ der erfolgreichste jemals damit ausgezeichnete Roman werden könnte, von Übersetzungen in 34 Sprachen und einer anstehenden Verfilmung.

Darin geht es zentral um einen Transatlantikflug, Paris Richtung New York, im März 2021, also bei Erscheinen des Buchs in Frankreich minimal in der Zukunft liegend. Und es geht, eben, darum, dass derselbe Flug, an Bord dieselbe Crew und dieselben Passagier_innen, nochmals aus Europa kommend Nordamerika erreicht – aber drei Monate später, im Juni. Le Tellier lässt die solchermaßen also nun zweimal existierenden Figuren einander auch noch begegnen; Figuren, von denen nicht wenige ohnehin führen, was gerne Doppelleben genannt wird: der Auftragskiller mit der Fassade eines Geschäftsmanns und Familienvaters.

Science-Fiction oder zumindest Phantastik, Wissenschafts- und Kulturbetriebssatire, Thriller, Parabel, philosophischer Versuchsaufbau: So wenig sich das Buch auf ein einzelnes Genre festlegen lässt, so vergnügt scheint Le Tellier allerlei Möglichkeiten, eben, durchzuspielen, die sich aus so einem Flugzeug voller Doppelgänger_innen ergeben: Die Begegnung der Charaktere mit sich selbst geht durchaus unterschiedlich aus.

Freude am literarischen Spiel

Eine Idee vom Wie mag vermitteln, dass Le Tellier Teil der Autor_innengruppe „Oulipo“ ist: Das steht für „L’Ouvroir de Littérature Potentielle“, zu Deutsch „Werkstatt für Potentielle Literatur“. Gegründet 1960 von François Le Lionnais und Raymond Queneau gefallen sich die Mitglieder dieses Zirkels durchs Setzen zumeist formaler Regeln; das vielleicht bekannteste Ergebnis ist Georges Perecs Roman, „La Disparition“ (1969), in dem sich der Buchstabe e kein einziges Mal findet.

Demgegenüber sind die strukturellen, auch Zahlenspielereien der „Anomalie“ zahm, interessiert sich Le Tellier auch für seine Handlung – und hat durchaus nicht zuletzt ja auch einen Roman geschrieben über den 11. September und manche seiner Folgen: Nicht nur das Motiv des in schwere Turbulenzen geratenen Passagierflugs und New York City als Quasi-Schauplatz lassen an die Bilder denken, die dieser Tage gerade 20 Jahre alt geworden sind. Auch spielt ja der US-amerikanische Sicherheitsapparat, spielen, ganz unplakativ, Dienste und ihr Wissen und eine dienstbar gemachte Wissenschaft eine wesentliche Rolle.

Insofern ist es beinahe perfekt terminiert, wenn Le Tellier – und sein langjähriger Übersetzer Jürgen Ritte, dieses bemerkenswerte Buch nun vorstellen.

Mi, 15. 9., 19.30 Uhr, Hamburg Literaturhaus. Die Lesung vor Ort ist ausverkauft, nicht so der Stream. Tickets: https://t1p.de/y11f7

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