„Das braucht man im Leben“

Irgendwann sind sie nicht mehr zur Schule gegangen, wochen-, monatelang. Im Schulvermeider-Projekt in Gröpelingen lernen Jugendliche, ihren Zielen zu folgen. Und sie zeigen, was sie drauf haben. Derzeit bauen sie ein Haus – ganz alleine

Kein Respekt vor ihren Geschichten, kein Respekt vor ihren Leistungen. Weil sie in dieser Gesellschaft nicht wertgeschätzt werden

Der Junge in der blauen Arbeitskluft schnieft, steckt die Hände in die Taschen und deutet mit dem Kinn auf den Betonboden. „Frostschutzschürze“, sagt er, „80 tief, Spatenbreite, nach unten gebuddelt, dann voll gegossen.“ Das klingt nicht nach einem 14-Jährigen, das klingt nach Mann, nach Arbeiter, nach einem, der sowas schon oft getan hat. Hat Michael* auch. Er hat in seinem jungen Leben schon viel gearbeitet. Nachtschichten auf dem Großmarkt geschoben, später auf dem Bau gearbeitet. „Trockenbau kann ich“, sagt Michael und zuckt mit den Schultern.

Dass Kinder in diesem Land nicht arbeiten dürfen, spielt in der Realität von Michael keine Rolle. Jetzt arbeitet er wieder, auf der Jugendfarm Ohlenhof. Aber diesmal ist alles anders. Michael gehört zum Team von Volker Wessel, der Jahr für Jahr mit einer Handvoll Schulverweigerern, vulgo: Schwänzern, lernt, arbeitet und versucht, sie bei ihren Zielen zu packen.

Denn Ziele haben sie alle. In diesen Wochen ein ganz besonderes: Sie bauen ein Haus. Ganz alleine. Die fünf Jugendlichen haben unter Wessels Anleitung die Pläne für das Back- und Gemeinschaftshaus gezeichnet, sie haben die Fläche vorbereitet, besagte Frostschutzschürze gegossen, eine Höllenarbeit. „Da sind sie wirklich an ihre Grenzen gekommen“, erzählt Volker Wessel. Das Fundament, das von der Schürze umgeben ist, haben sie dann gießen lassen. Das war aber auch alles an Hilfe von außen. Die Holzstreben, die den Rohbau ausmachen, haben sie selbst zugeschnitten und gesetzt. Jetzt hobeln sie an den Dachbalken. Die müssen passen, haargenau. „Du bist’n Hans, echt“, sagt Mark* zu André,* „du bist so’n Hans!“ André hält die Bohrmaschine in der Hand, steht ein bisschen linkisch neben dem Balken und kichert. Mark grinst auch. „Hier ist die Kabeltrommel, Chef“, raunzt er, „schon mal was davon gehört?“ Gemeinsam stöpseln sie den Stecker ein, und fangen an zu bohren. Einer bohrt, einer guckt. Es geht um Millimeter. „Perfekt“, sagt Volker Wessel später. „Total überperfekt“, sagen die beiden, ein bisschen höhnisch ist das gemeint, aber eigentlich klingt es nur stolz.

„Es ist doch eine Illusion zu glauben, dass Jugendliche es toll finden, unter der Brücke zu schlafen“, sagt Volker Wessel. Er hat oft erlebt, dass seinen Kids kein Respekt entgegengebracht wird. Kein Respekt vor ihren Geschichten, kein Respekt vor ihren Leistungen. Weil es nicht die Leistungen sind, die in dieser Gesellschaft wertgeschätzt werden.

Siehe Michael. Er hat aufgehört zur Schule zu gehen, als er mit seiner Klassenlehrerin aneinander geriet. „Die wollte mir mein Handy wegnehmen“, erzählt er und ist jetzt noch empört, „die wollte meine Tasche auskippen.“ Da hat er sie geschubst. Und ist nicht mehr zu ihrem Unterricht, irgendwann nicht mehr zur Schule gegangen. Stattdessen hat er gearbeitet. „Ich verdien’ mir halt mein eigenes Geld“, Michael hebt den Kopf, „ich muss nicht zu meiner Mama gehen.“ Hätte die auch keins? „Genau“, sagt er. Seine Eltern hätten durchaus registriert, dass er schwänzte. „Die sagen: Du lernst für dich, nicht für die Lehrer.“ Sie ließen ihn gewähren. Vielleicht konnten sie auch nicht anders.

Wie alle anderen in Wessels Projekt würde Michael alles anders machen, könnte er die Uhr zurückdrehen. „Ich würde weiter zur Schule gehen“, sagt er und schnieft nochmal, „muss ich.“ Sein Ziel: „Einen Abschluss kriegen, das braucht man im Leben.“

Das Projekt von Volker Wessel in Gröpelingen ist die letzte staatliche Station für Schwänzer. Derzeit hat er fünf Schützlinge, die meist nach Monaten des Schwänzens auf die Farm kamen, skeptisch bis ablehnend zu Anfang, jetzt einhellig begeistert. „Ich bin bisweilen ziemlich anstrengend“, sagt der Lehrer, der für die Jugendlichen viel mehr als nur das ist, „dadurch dass ich nicht reglementiere, sondern sie sich stundenlang mit mir unterhalten müssen.“ Wessel arbeitet mit ihnen, gibt ihnen Unterricht und hilft ihnen zurück zu einer Struktur – Strukturen, die die Jugendlichen in ihren oft in zweiter Generation von Sozialhilfe abhängigen Familien nie erlernt haben. Wessel will das nicht als Vorwurf verstanden wissen: „Wie soll man denn eine Struktur einhalten, wenn man aus allen Systemen rausgefallen ist?“ Den Kids fehlten „Qualifikationsvorbilder“. Dass das von Reglement geprägte Schulsystem geeignet sei, Menschen wie sie zu unterstützen, bezweifelt der Projektleiter. „Sie sind leistungs- und lernfähig“, sagt Wessel über seine Jugendlichen, „es ist nicht so, dass man mit ihnen nicht arbeiten kann – aber sie sind nicht konform.“

Wie leistungs-, wie lernfähig sie sind, das beweisen sie in diesen Tagen. Mit Beginn der Ferien endet ihre Zeit auf der Farm. Bis dahin wird der Rohbau stehen, am letzten Schultag wird gegrillt. „Party“, sagt Volker Wessel, „Paaaardie“, kräht es hinter ihm.

Danach gehen sie alle wieder zur Schule, die meisten zur Berufsbildenden Schule, wo sie ihren Hauptschulabschluss mit handwerklichen Qualifikationen verbinden. Sie werden ihren Schulkameraden dort viel voraushaben, glaubt Volker Wessel: Arbeiten im Team, mit Werkzeugen umgehen, aufräumen hinterher – Fähigkeiten, die andere noch lernen müssen.

Es ist nicht so, dass in Volker Wessels Projekt lauter Musterschüler entstünden. Viele von ihnen haben trotz guter Zeit auf der Farm später keinen Erfolg in der Schule. Doch bei dieser Gruppe wird das anders sein, da ist sich Volker Wessel sicher: „Die werden alle ihren Hauptschulabschluss schaffen.“ sgi

*Name geändert