die woche in berlin
:

Autofrei in 16 Jahren? Unbefristeter Streik bei Vivantes und Charité. Und: Bei einigen Briefwahlunterlagen fehlen die Abstimmungszettel für den Enteignen-Volksentscheid

Imageschaden für die Demokratie

Fehlende Abstimmungszettel für den Volksentscheid

Diese Woche kam heraus, dass in Berlin einige Menschen in ihren Briefwahlunterlagen nicht alle Zettel vorgefunden haben, die da eigentlich drin sein sollten. Krass! Auffallend häufig soll der DIN-A5-Stimmzettel zum Volksentscheid Deutsche Wohnen & Co enteignen gefehlt haben. Doppelt krass! Da zieht schnell der Manipulationsvorwurf auf. Vor allem, wenn das kurz vor der Wahl bekannt wird. Woran kann es liegen? Zufall – oder will hier tatsächlich jemand die Abstimmung gefährden?

Zunächst ein Blick auf die Fakten: Der Landeswahlleitung sind Stand Freitag offiziell 23 Fälle bekannt, in denen der Abstimmungszettel für den Volksentscheid in Briefwahlunterlagen fehlte. Die Initiative DW enteignen guckt ihrerseits kritisch drauf und sammelt aktuell selbst solche Fälle. Bei ihr hatten sich zunächst rund 70 Menschen gemeldet. Nach Überprüfung soll es sich vorläufig um 55 handeln. Denn den Social-Media-Aufruf „Du hast keinen Abstimmungszettel für den Volksentscheid erhalten? Viele andere auch nicht!“ hätten viele falsch verstanden, so ein Sprecher der Initiative. „Manche denken, dass der Stimmzettel schon bei der Wahlbenachrichtigung dabei ist.“

Außerdem bekommt nicht je­de*r Wahlberechtigte in Berlin die gleiche Anzahl von Stimmzetteln: nichtdeutsche Eu­ro­päe­r*in­nen etwa dürfen nur auf Bezirksebene wählen. Das alles muss man erst mal wissen, um zu merken, ob ein und welcher Zettel fehlt. Es zeigt auch, wie kompliziert und so gar nicht niedrigschwellig die Briefwahl ist.

Trotzdem wählen wohl wegen Corona so viele wie nie zuvor per Post: 776.000 Ber­li­ne­r*in­nen haben bereits Briefwahl beantragt, 100.000 mehr als bei der letzten Bundestagswahl 2017. Auch anderen Kommunen hat das schon zu schaffen gemacht; in Niedersachsen etwa wurden Stimmzettel vergessen oder falsch beschriftet verschickt.

Aktuell gefährden die fehlenden Stimmzettel übrigens noch nicht die Gültigkeit der Abstimmung. Dafür müssten es so viele sein, dass sie für das Ergebnis des Volksentscheids den entscheidenden Ausschlag geben könnten. Das wird laut jüngsten Umfragen zwar knapp, aber das Ja zur Enteignung hat demnach stabile vier Prozent Vorsprung.

Um ein paar Hundert oder gar Tausend Stimmen geht es also wohl nicht. In Berlin würden 100 unvollständige Briefwahlunterlagen eine Fehlerquote von 0,01 Prozent bedeuten. Das klingt nach wenig, gefährdet aber dennoch das Wahlrecht der Einzelnen. Dem Image der Demokratie schadet es on top. Trotzdem: Wahlhelfende-Immobilienlobbyisten, die Volksentscheid-Stimmzettel in ihren Aktentaschen verschwinden lassen? Die gibt’s wohl kaum.

Für eines war diese ganze Riesenpanne vielleicht gut: Wer am Küchentisch wählt, überprüft seine Wahlunterlagen jetzt genauer. Und wenn etwas fehlt: das Wahlamt anrufen. Dann bekommt man den fehlenden Schein nachgeschickt. Hat man nämlich einmal den Wahlbrief in die Post geworfen, kann man nichts mehr nachreichen – und eine verpasste Stimme bei der Enteignungsfrage wäre eine für die Immobilienkonzerne.

Cristina Plett

Folgerichtig und strategisch sinnvoll

Die Krankenhausbewegung tritt in den Erzwingungsstreik

Was lange angekündigt wurde, wird nun wahr: Seit Donnerstag sind die Berliner Klinikbeschäftigten in einem unbefristeten Arbeitskampf. Mit dem Er­zwin­gungsstreik wollen sie ihre Forderungen – einen Tarifvertrag, Entlastung für die Pflegenden und eine Bezahlung gemäß des Tarifvertrags für den öffentlichen Dienst TVöD für alle Beschäftigten der Tochtergesellschaften – in den nächsten zwei Wochen durchsetzen.

Erst nachdem die Gewerkschaft Verdi die Urabstimmung über den unbefristeten Arbeitskampf angekündigt hatte, bewegte sich die Vivantes-Klinikleitung. Am Montag schlug sie ein System vor, in dem der Leistungsumfang der Krankenhäuser je nach vorhandenem Personal gedeckelt würde. Der Vorschlag ist konstruktiv und zielführend. Mit ihm als Verhandlungsgrundlage kann eine für Personal und Pa­ti­en­t:in­nen menschenwürdige Pflege möglich werden. Im gleichen Atemzug hatten Vivantes und Charité aber verkündet: Kommt es zu Streiks, enden auch die Gespräche. Entsprechend entrüstet zeigte sich Vivantes dann auch, als sich über 98 Prozent der gewerkschaftlich organisierten Beschäftigten am Montag dennoch für den Arbeitskampf aussprachen.

Doch die Entscheidung der Beschäftigten ist folgerichtig, denn der Vivantes-­Vorschlag sieht nach wie vor keine Konsequenzen für den Fall vor, dass die Klinik­leitung die nötige Personalbemessung unterschreitet. Auch strategisch ist der Streik richtig, weil es zu dem Vivantes-Vorschlag nicht trotz, sondern wegen des Drucks kam.

Vor der Streikverkündung hatte Vivantes über Monate verkündet, eine Entlastung der Pflegenden sei leider nicht drin, da sonst – so der Tenor von so mancher Pressemitteilung – Berlins Krankenversorgung zusammenbrechen und Vivantes pleitegehen würde. Dass es nun zur 180-Grad-Wende kam, zeigt: Der kollektive Druck wirkt. Die Drohung, die Gespräche einzustellen, besteht wohl ähnlich wie das Horrorszenario eines zusammenbrechenden Gesundheitssystems vor allem aus einem: heißer Luft.

Die Beschäftigten haben jetzt die Zügel in der Hand. Indem sie für bessere Arbeitsbedingungen kämpfen, üben sie auch Druck auf die Politik aus, das Gesundheitssystem endlich aus dem Joch des Kapitalismus zu befreien. Die Stadtgesellschaft sollte das Klinikpersonal, wo es nur geht, unterstützen. Timm Kühn

Die langsamen Mühlen der Planung

Was autofreie Linden mit Helmut Kohl gemeinsam haben

Hätte so etwas sehr überzeugend geklungen? „Wir werden den Boulevard Unter den Linden fußverkehrsfreundlich machen und den motorisierten Individualverkehr unterbinden. Das dauert voraussichtlich 16 Jahre.“ Nein, natürlich nicht. Deswegen stand der letzte Satz auch nicht in der Koalitionsvereinbarung R2G von 2016. Seit der vergangenen Woche ist aber klar: Das Projekt dauert tatsächlich ungefähr so lange wie die Regierungszeit von Angela Merkel oder Helmut Kohl selig.

Nun ist eine Umgestaltung der einstigen Pracht- und Flanierstraße Unter den Linden ganz sicher nicht dasselbe, wie mal ein Dutzend Felsbrocken auf der Bergmannstraße abzuladen – auch wenn das seinerzeit eine sehr effektive Maßnahme gegen Falschparkende war. Das Ganze soll schon einigermaßen gut werden, der Denkmalschutz lässt auf der alten Preußenmagistrale nicht mit sich spaßen, und die Anrainer haben hier auch ein anderes Kaliber.

Aber 2032, wirklich? Nun, fünf Jahre – die laufende Legislaturperiode nämlich – waren lediglich Vor- beziehungsweise Leerlauf, geschuldet offenbar der Tatsache, dass die Senatsverkehrsverwaltung mehr als genug damit zu tun hatte, die Anforderungen des Mobilitätsgesetzes zu erfüllen. Das ließ sich beispielsweise an der gesetzlich vorgeschriebenen Aufstellung des Radverkehrsplans ablesen, der auch gerade erst, mehr als ein Jahr nach Fristende, fertig geworden ist.

Insofern sind es netto dann doch nur 10 oder 11 Jahre, die ins Land gehen werden, bis die neuen Linden fertig sind (die Straße, nicht die heute zum großen Teil stark geschädigten Bäume darauf, das ist ein anderes Thema). Für LaiInnen ist das kaum nachvollziehbar. Fragt man hingegen Leute mit Verwaltungserfahrung, ergibt diese grotesk anmutende Zeitspanne schon etwas mehr Sinn.

Denn die Mühlen der Planung mahlen in Deutschland einfach ungeheuer träge, und umso träger, je mehr AkteurInnen an einem Projekt beteiligt werden müssen. Vorplanung, Bauplanung, Planfeststellung, Ausführungsplanung, man macht sich gar keine Vorstellung davon. Erschwerend kommt hinzu, dass der Bund vorerst noch seine Hand auf den Linden hat, weil es sich um eine Bundesstraße handelt. Dann könnte es noch zu Klagen kommen, und dann soll es wie gesagt ja auch noch gut werden …

Wie das angesichts solcher zähen Abläufe mit dem Klimawandel klappen soll? Da wird einem ganz schwindelig. Jetzt kommt es jedenfalls erst mal darauf an, die BürgerInnenbeteiligung zu einem Erfolg zu machen. Vielleicht lässt sich ja mit viel Druck doch noch erreichen, dass die Linden am Ende weitgehend autofrei sind.

In der Verkehrsverwaltung stellt man sich bislang immer noch eine Lösung mit zulässigem Anliegerverkehr vor. Und Anlieger, kein Witz, ist in Deutschland im Prinzip immer noch, wer ein Anliegen hat. Also quasi jedeR. Claudius Prößer

Vorplanung, Bauplanung, Planfest­stellung, Ausfüh­rungs­planung, man macht sich gar keine Vorstellung

Claudius Prößerüber die Planung eines autofreien Boulevards Unter den Linden