berliner szenen
: Zustände wie bei Kafka

Wie oft warst du dieses Jahr denn schon an der Ostsee?“ Meine Freundin überlegt. „Etwa fünfmal“, sagt sie. „Seit wann hast du so viel Urlaub?“ Sie lächelt geheimnisvoll. Meine Freundin ist Architektin und arbeitet in einem Amt. In welchem, weiß ich nicht, aber sie sagt, das sei egal, denn Amt sei Amt. „Was soll das heißen, Amt ist Amt?“, will ich wissen. „Amt ist eben Amt“, sagt sie und erzählt mir von einem Kollegen, dessen Aufgabe darin besteht, jeden Morgen in den anderen Ämtern anzurufen und Informationen einzuholen. „Welche Informationen?“, will ich wissen. „Und welche anderen Ämter?“ Auch das sei egal, sagt sie, wichtig für die Geschichte sei nur, dass die Aufgabe ausschließlich morgens erledigt werden kann und von Montag bis Donnerstag, denn freitags und am Nachmittag geht keiner mehr ans Telefon. Das stört den Kollegen aber nicht, denn da ist er ebenfalls schon zu Hause.

Umso mehr habe sie sich gewundert, als sie ihn eines Freitagnachmittags zufällig in seinem Zimmer antraf. Sie hatte seinen Drucker benutzen wollen, die Tür war offen, und als sie hereinkam, saß der Kollege am Schreibtisch und blickte sie an.

„Was hast du denn noch zu tun?“, fragte sie ihn. „Nichts.“ „Warum bist du dann noch hier?“ „Ich mache Überstunden.“ „Obwohl du nichts zu tun hast?“ „Ich habe keine Urlaubstage mehr und möchte gerne mit meiner Familie an die Ostsee fahren. Noch mal raus aus Berlin, bevor der Winter kommt.“ „Und deshalb sitzt du jetzt einfach hier?“ „Ich kann ja schlecht Überstunden aufschreiben, die ich nicht gemacht habe.“ Gegen solch bestechende Logik wusste auch meine Freundin nichts einzuwenden. Als sie die Tür schloss, hörte sie den Kollegen murmeln. „Nur noch zwei Stunden bis 17 Uhr.“

Ab dann fuhr auch sie mit ihrer Familie regelmäßig an die Ostsee. Eva Mirasol