Luftige Arbeitslosenzahlen

FAKTENCHECK Möchtegernkanzler Frank-Walter Steinmeier (SPD) setzt im Wahlkampf voll auf den Abbau der Arbeitslosigkeit. Doch die ist viel höher, als er behauptet: Ein-Euro-Jobber fallen genauso raus wie viele Ehepartner

■  Der sonntaz-Faktencheck: Bis zur Bundestagswahl in einer Woche nimmt die sonntaz Aussagen von Politikern und prüft: Richtig oder falsch? Konsistent oder widersprüchlich? Glaubwürdig oder scheinheilig?

■  Frank-Walter Steinmeier: „Mich freut, dass wir die Arbeitslosenzahl von 5 Millionen auf 3 Millionen heruntergekriegt haben“, sagte der SPD-Kanzlerkandidat am Sonntagabend im TV-Duell mit Kanzlerin Angela Merkel. Steinmeier weiter: „Aber wir wollen doch daran erinnern: Das waren Entscheidungen aus rot-grüner Zeit, die das möglich gemacht haben.“

■  taz-Leser Klaus Böttcher aus Berlin hatte angeregt: „Prüfen Sie bitte, welche Arbeitslosen nicht mehr in der Statistik auftauchen. Sie wissen schon, was ich meine. Enttarnen Sie einfach die Lügerei über den deutschen Arbeitsmarkt.“

■  Was sollen wir prüfen? Vorschläge an sonntaz@taz.de

Für den SPD-Kanzlerkandidaten Frank-Walter Steinmeier ist der Abbau der Arbeitslosigkeit das wichtigste Argument im Wahlkampf. Sein „Deutschland-Plan“ beschreibt, wie bis zum Jahr 2020 4 Millionen neue Jobs entstehen sollen. Sein Versprechen: Vollbeschäftigung in Deutschland.

Doch seit Jahrzehnten manipulieren Regierungen die Arbeitslosenstatistik – sie ändern einfach die Definition, wann jemand als arbeitslos gilt. Auch die rot-grüne Bundesregierung hat sich daran beteiligt. Die Frage ist also: Wie viele Jobs müsste man wirklich in Deutschland schaffen, um Vollbeschäftigung zu erreichen? Laut Bundesagentur für Arbeit gab es im August 3.472.000 Arbeitslose. Doch tatsächlich gibt es viel mehr Menschen, die keine reguläre Arbeit haben, aber gern eine hätten. Steinmeier müsste also viel mehr Jobs schaffen, als er die Wähler glauben lassen will.

Ein-Euro-Job reicht

Die rot-grüne Bundesregierung hatte einerseits für etwas mehr Ehrlichkeit in der Statistik gesorgt: Dort tauchten durch die Hartz-Reformen viele vorher nicht als arbeitslos registrierte Sozialhilfebezieher auf. Im Januar 2005 stieg die Arbeitslosenzahl dadurch sprunghaft auf über 5 Millionen.

Doch zu völliger Ehrlichkeit reichte es nicht. Weiterhin blieben viele Arbeitslose verborgen. Zum Beispiel führte Rot-Grün die sogenannte 58er-Regelung von Helmut Kohl fort: Wer 58 Jahre oder älter war und seinen Job verlor, konnte staatliche Unterstützung erhalten, ohne gleichzeitig dazu verpflichtet zu sein, eine neue Arbeit anzunehmen. Die Betroffenen wurden dann auch nicht mehr als arbeitssuchend erfasst. Hunderttausende fielen aus der Statistik – und Unternehmen nutzten die Regelung, um massiv Arbeitskräfte in die Frührente zu schicken.

Die rot-grüne Bundesregierung erfand auch ein paar eigene Mittel, um die wahre Arbeitslosigkeit zu verschleiern. Im Jahr 2004 etwa wurde festgelegt, dass Arbeitslose, die unter Androhung von Sanktionen zu einem Ein-Euro-Job verpflichtet werden, nicht mehr als arbeitslos zählen. Das ist bis heute so und betrifft rund 300.000 Menschen. Auch die rund 250.000 Menschen, die in einem Bewerbertraining oder einer ähnlichen „Qualifizierungsmaßnahme“ stecken, gelten als offiziell nicht arbeitslos.

Aus der Statistik fallen auch die derzeit rund 200.000 Personen, die einen staatlichen Zuschuss in der Anfangsphase ihrer Selbstständigkeit erhalten. Dabei handelt es sich um Leute, die sich oft aus Mangel an Alternativen aus der Arbeitslosigkeit heraus selbstständig gemacht haben. Darunter sind viele Verlegenheits-Existenzgründungen, die später scheitern.

Und dann ist da noch die sogenannte stille Reserve. Ein Beispiel: Für die Kindererziehung hat ein Elternteil eine längere Auszeit genommen und sucht jetzt wieder Arbeit. Doch das wird nicht beim Jobcenter gemeldet: Weil der andere Partner mit seinem Einkommen die gesamte Familie versorgt, gäbe es ohnehin keine Leistung vom Amt. Diese stille Reserve bestand im vergangenen Jahr aus gut 470.000 Menschen.

Fälschung geht weiter

„Wir gehen davon aus, dass die Unterbeschäftigung derzeit bei 4,5 Millionen liegt“

ARBEITSMARKTFORSCHERIN SABINE KLINGER

Die Statistikfälschung geht auch unter dem derzeitigen Arbeitsminister Olaf Scholz (SPD) weiter. Seit diesem Herbst gelten Arbeitslose nicht mehr als arbeitslos, wenn sie von einem privaten Arbeitsvermittler betreut werden. Das Ifo-Institut für Wirtschaftsforschung fürchtet, dass dadurch 200.000 Menschen aus der Statistik fallen.

Wie viele Arbeitslose gibt es also wirklich? Auch nach Berechnungen des Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung, das zur Bundesagentur für Arbeit gehört, sind es viel mehr als die offiziell genannten knapp 3,5 Millionen. „Wir gehen davon aus, dass die Unterbeschäftigung derzeit bei 4,5 Millionen liegt“, sagt Sabine Klinger, Arbeitsmarktforscherin des unabhängig arbeitenden Instituts. Die Differenz zwischen den offiziellen und den wirklichen Zahlen liegt also bei mehr als einer Million.

Und egal wie die nächste Bundesregierung weiter an der Statistik drehen wird: Das Institut wird weiter berechnen, wie viele Jobs fehlen. Klinger: „Für das nächste Jahr prognostizieren wir eine Unterbeschäftigung von 5,3 Millionen.“ Wenn Steinmeier also tatsächlich Vollbeschäftigung will, muss er sich noch ein paar zusätzliche Ideen einfallen lassen – sein ohnehin schon mehr als optimistisches Versprechen von 4 Millionen neuen Jobs wird dafür nicht reichen.