WILLST DU DEN MENSCHEN VERSTEHEN , SIEH’, WAS ER ENTSPANNUNG NENNT: VOM CHILLEN IM SCHANZENVIERTEL
: Drei Latte, O-Saft, Toast

ROGER REPPLINGER

Samstag Morgen, gegen zehn. Einen Latte hab ich schon, ein Buchstabe weniger und dies wäre Pornografie. Das Chillen fängt an, wenn ich mit meinen Rad, es heißt Heinz, die Sternschanze runter rolle, am beinahe gleichnamigen Café vorbei, die Reifen schmatzen.

Willst du wissen, unter welchem Druck die Leute stehen, dann guck dir an, was sie brauchen, um ihn los zu werden, also: zu chillen. Italiener brauchen eine Piazza, ein paar kleine Tische, Espresso, Fluppe, einen Ober mit weißer Schürze. Den Himmel kriegen sie so und die Zypressen. Franzosen brauchen ein Bistro. In München brauchen sie ein paar Linden und Biertische und große Gläser darauf und Brez’n. In Hamburg: zwei Stadtviertel. Eines für Sex, das andere für den Rest.

Haben eben mehr Druck, die Hamburger.

Ich sitze Susannen-, Ecke Rosenhofstraße. Tattoos laufen vorbei, Hunde, Sonnenbrillen. In dieser Stadt musst du die Chancen nutzen, dich von deiner Sonnenbrille ausführen zu lassen. Stöpsel in den Ohren, Kinder auf den Schultern von Papas, halten sich an deren Ohren, Mädchen in Tights und Flip-Flops. „Noch Einen?“, fragt die junge Frau, die hier herum flitzt. „Ja, unbedingt.“

Nun braucht der Hamburger nicht nur zwei Viertel, um runter zu kommen, sondern auch das: Kopfsteinpflaster, Graffiti, Kippen auf der Straße, Tauben, bunte Türen, türkische Grünhöker, Dealer, besetzte Häuser, die Rote Flora und Leute, die mehr verloren haben als du selbst: Junkies.

Daran siehst du, was die Leute meiden, um zu chillen, weil sie zu viel davon haben: Ordnung, Sauberkeit, aufgeräumte Schreibtische und Vorgärten, Nachbarn, Ehefrau, Ehemann, die CDU, Eigenheim, Ballettunterricht der Gören. Die Schanze ist nicht in Hamburg.

An der Ecke parkt ein Daimler, schwarz, fett. Er ragt in die Rosenhofstraße rein. Kommt von oben ein Laster mit frischen Getränken für den Laden, vor dem ich sitze, muss abbiegen, kommt nicht um die Ecke. Hupt. Hupen kann ein Problem werden: Hupen ist Hamburg, gehört nicht hier her. Der Lasterfahrer ist cool, sein Beifahrer steigt aus und raucht eine. Der Besitzer des Daimlers kommt angewetzt, sabbelt kurz mit dem Besitzer des türkischen Ladens und brummt ab. Der Laster biegt um die Ecke, der Beifahrer hat die Hand auf der Stoßstange hinten. Ist knapp, reicht aber. Der Laster hält an, Ladeklappe runter, macht die Rosenhofstraße dicht.

Im Café Presse kommt es vor, dass die Gäste Schuhe und Strümpfe ausziehen, ehe sie ihre Haxen auf die Stühle legen. Ist nicht schön. Noch weniger schön sind die jungen Leute aus den Suburbs, die um zwei Uhr morgens Fusel beim Kiosk holen, krakeelen, auf die Susannenstraße kotzen und in den Kinderspielplatzsand scheißen. Verwechseln Chillen mit Sau raus lassen. Wie scheiße muss deren Leben sein, wenn das Entspannen so aussieht?

Ich nehm’ einen Toast, einen großen Orangensaft und noch einen Latte. Gegen Mittag wird es voll. Gegen drei fahr ich. Schanze: Hält ein paar Tage, dann will Heinz wieder hin.