die woche in berlin
: die woche in berlin

Angesichts der Coronalage ist Berlin gut beraten, weiter Vorsicht walten zu lassen. Die Kritik an Extinction Rebellion ist vor allem eine Stilkritik. Und: Das Aufnahmeprogramm für gefährdete Afghan*innen, das der Berliner Senat am Dienstag beschloss, kommt zu spät

Die Pandemie
ist noch
nicht vorbei

Die Zahl der Covid-Intensiv-
patienten macht frösteln

Jaja, die Zahl der Corona­neu­ansteckungen steige – aber man solle doch mal auf die Auslastung der Intensivstationen mit Coronapatienten schauen: Die sei niedrig und liege eben nicht im roten Bereich. Das ist in diesen Tagen allenthalben der Tenor und war auch am Dienstag nach der Senatssitzung von Regierungschef Michael Müller (SPD) wieder zu hören. Orientiert man sich an der Berliner Coronawarn­ampel, kann das tatsächlich etwas Beruhigendes vermitteln: Auf „Rot“ schaltet die Ampel bei der Bettenauslastung erst ab 25 Prozent – am Freitag waren es laut jüngstem Lagebericht der Senatskanzlei 5, eine Woche zuvor 4,4 Prozent. Was auf der Ampel „Grün“ bedeutet.

Doch ganz anders stellt sich die Situation dar, schaut man sich den entsprechendem Wert von vor einem Jahr um diese Zeit an (praktischerweise braucht man dazu auf der Webseite des Lageberichts nur „Archiv“ anzuklicken): Der lag nämlich Ende August 2020 nur bei 1,5 – also bei weniger als einem Drittel des aktuellen Werts.

Was das Ganze umso erschreckender macht: Dieser gegenüber 2020 so viel höhere Wert kommt trotz einer Berliner Impfquote von 57,6 Prozent am Freitagmorgen zustande und obwohl die besonders gefährdeten Älteren weitgehend geschützt sind – 84 Prozent der über 60-Jährigen sind zweimal geimpft.

Das Coronavirus in jetziger Form schafft es also, unter der verbleibenden Hälfte der Nichtgeimpften, die vorrangig aus Jüngeren besteht, über dreimal so viele Menschen nicht nur krank zu machen, sondern so krank, dass ihnen bloß auf der Intensivstation zu helfen ist. Und diese Verbleibenden sind ja nicht nur ein paar Versprengte, sondern immer noch knapp eineinhalb Millionen in Berlin.

Hält man sich vor Augen, wie schnell sich die Lage vergangenes Jahr im September und Oktober hin zur drohenden Überlastung der Krankenhäuser, zu Beherbergungsverbot und Lockdown entwickelt hat, lässt einen das frösteln. Umso mehr, wenn viele Menschen zugleich wie rückblickend davon reden, „in der Coronazeit“ sei dies oder das so oder so gewesen – als ob die Pandemie der Vergangenheit angehöre.

Das Gegenteil ist der Fall, und darum liegt der Senat richtig damit, keine weiteren Lockerungen zuzulassen, an der Maskenpflicht und anderen Maßnahmen festzuhalten. Es ist auch eine Frage von Solidarität, sich nun als Geimpfter nicht zurückzulehnen und zu sagen: „Nicht mein Problem, ich brauch keine Maske“, und so Ärzte und Pflegepersonal mit der Lage allein zu lassen.

Weiter Vorsicht walten zu lassen, wie es Regierungschef Müller am Dienstag ankündigte, ist der richtige Weg – und dann eben weiter „impfen, impfen, impfen“ propagieren und darauf hoffen, dass sich auch bisherige Skeptiker noch überzeugen lassen. Dieser Hoffnung wie nun beschlossen mit breiterer Testpflicht Nachdruck zu verleihen ist unabdingbar, wenn einen nicht bald außer dem Blick ins Corona-Archiv noch mehr die aktuelle Lage auf den Intensivstationen frösteln lassen soll. Stefan Alberti

XR
gehört
rehabilitiert

Die Aktionen der Klima­schüt­ze­r*in­nen sind mutig und bildstark

Die Klimaschutzbewegung Extinction Rebellion nervt: all jene, denen die Blockadeaktionen im Straßenverkehr ein Dorn im Auge sind, aber auch viele Linke, die sich für gewöhnlich nicht an Aktionen des Zivilen Ungehorsams stören. Übel genommen werden XR die Holocaust-Vergleiche und relativierenden Äußerungen ihres britischen Mitbegründers Roger Hallam sowie die Art und Weise der Politikvermittlung ihrer Aktivist*innen: Weltuntergangsraunen gepaart mit persönlicher Opferbereitschaft.

Nun gibt es an den Aussagen Hallams nichts zu entschuldigen, doch sie liegen bereits zwei Jahre zurück, und die deutsche XR-Sektion hat sich davon schnell und glaubhaft distanziert. Auch das Unbehagen gegenüber dem Auftreten der Kli­ma­schüt­ze­r*in­nen ist nachvollziehbar, man muss Bilder nicht gutheißen, auf denen sie an Galgen hängen oder auf schmelzenden Eisblöcken stehen. Im Kern ist das aber nicht mehr als eine Stilkritik. Politisch, das hat die Aktionswoche August Rise up deutlich vor Augen geführt, gehört Extinction Rebellion endgültig rehabilitiert.

In Berlin gab es in dieser Woche unter anderem Blockaden vor den Büros des Bauernverbandes, dem Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft, der Landesvertretung Nordrhein-Westfalens, dem Wirtschaftsrat der CDU. Aktionen richteten sich gegen den Lobbyverband „Gas Zukunft“ und die Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft. Mit Chuzpe, aber letztlich erfolglos wurde zudem versucht, ein Camp im Monbijoupark durchzusetzen. Während linke Demos bevorzugt durch ihre Kreuzberger Kieze latschen, tritt XR genau jenen Akteuren auf die Füße, die einem ökologischen Umbau der Gesellschaft im Wege stehen.

Die Kli­ma­ak­ti­vis­t*in­nen tun das mit Mut und einer kreativen Bildsprache, die in der außerparlamentarischen Bewegung auch nicht allenthalben zu finden ist. Eine großflächig mit Kunstblut beschmierte Fassade der CDU, ein NRW-Landeslogo, das zu einem N-RWE umgewandelt wurde, das Eindringen beim Wirtschaftslobbyverein mit CDU-Kontakt unter der Tarnung als Junge Union-Mitglieder, das Erklettern von Dächern, Ankleben von Händen und Füßen oder Festschließen zeigen die Bandbreite auf. Die Aktionen sind aufwändig, materialintensiv und plakativ. Muss man mehr über die Regierungspolitik der CDU sagen, als es XR auf einem im Parteidesign gehaltenen Transparent getan hat: „16 Jahre regiert, die Lobby stets hofiert – das Klima ruiniert“?

Die Klimakrise ist real, die Blo­ckie­re­r*in­nen von Veränderungen sind mächtig, die Werkzeuge der Klimabewegung oftmals nicht durchschlagend. XR versucht das zu ändern. Das verdient Anerkennung. Erik Peter

Signalwirkung
reicht
nicht

Was Afghanistan betrifft,
ist auch Berlin spät dran

Um dieses Thema kam man vergangene Woche wirklich nicht herum: Afghanistan. Vor einer Woche zeichnete sich ab, dass die Taliban als nahezu letzte Region die Hauptstadt Kabul einnehmen würden, am vergangenen Sonntag war es so weit. Dramatische Videos gingen um die Welt: Menschen, die sich verzweifelt an ein startendes US-Flugzeug klammern oder von einem fliegenden Flugzeug stürzen. Dass die Bundesregierung einige dieser Menschen, zunächst nur die sogenannten Ortskräfte, evakuieren wollte, schwang dabei immer mit. Im Juni hatte sie ein Ortskräfteprogramm beschlossen, aber dabei versagt, es umzusetzen, als noch Zeit dafür war.

Seit Anfang der Woche ist es nun schier unmöglich, eine geordnete Evakuierung zu organisieren. Die Menschen werden von den Taliban kaum zum Flughafen durchgelassen. Da ist es zwar ein wichtiges Signal, dass der Berliner Senat am Dienstag ein Landesaufnahmeprogramm beschlossen hat, über das nicht nur ehemalige Ortskräfte der Bundeswehr kommen sollen, sondern auch gefährdete Personen wie Frau­en­recht­le­r*in­nen und Journalist*innen. Auch Brandenburg will Af­gha­n*in­nen aufnehmen. Doch es kommt zu spät. Und es wirkt seltsam hilflos, wenn Senatssprecher Julian Mieth davon redet, dass das in den nächsten Monaten geschehen solle. Menschen, die nicht schon in Afghanistans Nachbarländer geflüchtet sind, wird das Programm dann wohl kaum helfen können. Denn ob in einigen Monaten Af­gha­n*in­nen noch aus dem Land kommen – fraglich.

Angesichts dessen, „was in Afghanistan geschieht“, das, so der Regierende Bürgermeister Michael Müller (SPD) „niemanden unberührt lassen“ könne, kann der Senat jetzt kaum anderes beschließen – zumindest, wenn er sich noch als sozialdemokratisch oder links begreifen will. Die Vergangenheit zeigt jedoch, dass gerade die SPD sich mit Geflüchteten aus Afghanistan nicht immer so solidarisch zeigte.

Man denke etwa an Äußerungen der Berliner SPD-Spitzenkandidatin Franziska Giffey: Noch vor sechs Wochen sprach sie davon, dass man Ge­fähr­de­r*in­nen und Straf­tä­te­r*in­nen aus Afghanistan abschieben müsse. Was damals schon pures Fischen am Law-and-order-Rand war, strategisch geäußert in der Bild am Sonntag, wirkt im Rückblick umso untragbarer. Berlin hat noch in diesem Jahr drei Menschen nach Afghanistan abgeschoben, Brandenburg im April gleich 20 auf einmal. Mit Blick auf die Statements der letzten Woche drängt sich da ein Vorwurf auf: Heuchelei.

Für die afghanische Diaspora hierzulande ist die Situation ohnehin doppelt belastend: Sie muss mit ansehen, was in dem Land passiert, und fast alle haben noch Verwandte dort. Daran sind auch die Regelungen zum Familiennachzug Schuld. Nur minderjährige Kinder und Ehepartner dürfen nachgeholt werden; Eltern und Geschwister nicht. Vielen geflüchteten Af­gha­n*in­nen wurde in den vergangenen Jahren gar nicht erst der Status erteilt, der sie zum Familiennachzug berechtigt. Nur rund 40 Prozent bekommen überhaupt einen geschützten Asylstatus.

Nicht umsonst kritisiert der Verband der afghanischen Organisationen in Deutschland, dass Af­gha­n*in­nen in Europa schon lange wie Geflüchtete zweiter Klasse behandelt würden. Vielleicht ändert die aktuelle Aufmerksamkeit für das Land daran etwas – wenn sie denn anhält. Cristina Plett

Die Vergangenheit zeigt jedoch, dass gerade die SPD sich mit Geflüchteten aus Afghanistan nicht immer so solidarisch zeigte

Cristina Plett zum Senatsbeschluss, gefährdete Af­gha­n*in­nen aufzunehmen