Schwitzen für die Gemeinschaft

Der Spielfilm „Sweat“ von Magnus von Horn porträtiert eine Fitness-Influencerin. Damit eröffnet heute das 16. Filmpolska-Festival

Von Jenni Zylka

„Lauft, so schnell ihr könnt!“, schreit Sylwia (Magdalena Kolesnik) in ihr Headset. Sie trampelt auf der Stelle, biegt den Körper, schwitzt, wirbelt den strengen Zopf zur Musik herum, die Fingernägel blitzen. Die Frauen, die sich um die Bühne im Einkaufszentrum versammelt haben und mitturnen, sind begeistert. Nach dem gemeinsamen „Workout“ umarmen sie Sylwia, manche weinen.

Sylwia hat 600.000 Follower, einen Hund und eine Wohnung in einem modernen Warschauer Wohnblock. Ihr Manager ist ein Sportsfreund, der mit ihr auf der Bühne steht und Verträge mit Sportbekleidungs- und Lebensmittelherstellern, deren Produkte sie bewirbt, abschließt. Magnus von Horns fiktives Porträt einer Fitness-Influencerin scheint zunächst in konzentrierter, intimer Form eine digitale Binsenweisheit zu reproduzieren: Wer digitale Freun­d:in­nen hat, kann trotzdem einsam sein: „You can’t put your arms around a memory“, erst recht nicht um einen Insta-Post. Als ein in einer schwachen Sekunde aufgenommenes Eingeständnis Sylwias viral geht und sich Sponsoren abzuwenden drohen („wir wollen keine weinenden Testimonials“), dreht der schwedische Regisseur, der sein Handwerk in Łódź lernte und mit „Sweat“ seinen zweiten Spielfilm inszeniert, jedoch eine weitere Runde.

Ab dem Augenblick, in dem ein Fremder in Sylwias klinisch-sportlicher Welt auftaucht, der zuerst ein verzweifeltes Video schickt und dann vor ihrem Haus im Auto onaniert, wird mehr über den Hintergrund der Protagonistin erzählt. Sie wird in der Inszenierung des Regisseurs zum Paradigma – aber nicht nur für den ambivalenten Austausch von Likes mit echten Menschen. Denn es steckt weit mehr hinter Sylwias Problem: Da ist eine lieblose Mutter, ein Körper, den man ausschließlich dadurch spürt, dass man ihn an die Grenze bringt, da ist eine alte Bekannte, die Sylwias emotionale Unfähigkeit zu spüren bekommt, ein Kollege, der sich einen Anspruch auf sie ausrechnet. Und da ist dieser verwahrlost wirkende Mann im alten Auto…

Regisseur von Horns durch Technobeats angetriebenes Drama erforscht neben der körperpsychologischen Not, die motivisch zuweilen an den verstörenden Film „Ekel“ von Roman Polanski (übrigens ebenfalls ein Łódź-Absolvent) erinnert, noch eine kollektive Ebene. Denn Sylwia und den Fremden im Auto trennt vieles, auf eine merkwürdige Art und Weise könnte er sie jedoch auch komplettieren. Ist er ein Stalker – oder gar ein Teil von ihr, den sie zu verdrängen versucht? Offenbart er ihre versteckte Seite? Mit seiner Schwäche, seinem unperfekten Körper, seinen offensiven Avancen, seinem Alter und dem alten Vehikel, das wie ein Schmutzfleck in einem chromglänzenden Teil einer ebenfalls alten Stadt prangt? Steht er für die Spaltung einer ganzen Gesellschaft?

Von Horns Symbolik ist rigoros und vielfältig interpretierbar. Was er am Anfang als glänzende Zukunft einer Frau, eines Landes, einem Verständnis von (digitaler statt sozialer) Gemeinschaft aufgebaut hat, zerstört er im letzten Teil – im wahrsten Wortsinn: Jemand wird brutal zusammengeschlagen. Vielleicht bekommt Sylwia dadurch die Chance, einen Teil von sich selbst wiederzuentdecken – jenen, der ihr beim Schwitzen, Animieren, Trainieren und Posten abhandengekommen ist. „Sweat“, der heute das 16. Filmpolska-Festival eröffnet, ist das so bedrückende wie beeindruckende Zeugnis einer nur scheinbar paradoxen Situation: Einsamkeit hat nichts mit anderen zu tun, nicht mit vielen oder gar keinen Followern. Sondern ausschließlich mit dem eigenen Zustand.

Filmpolska 2021, bis 1. September in mehreren Kinos