Schrecken und Exzess

Der streitbare Intellektuelle Karl Heinz Bohrer starb 88-jährig

Foto: Jens Kalaene/dpa

Von Tom Mustroph

Vermissen werden ihn vermutlich wenige, trotz der schillernden Nachrufe, die im Todesfalle immer verfasst werden. Karl Heinz Bohrer, dieser Gentleman-Anarchist, ein Ästhet, der längst vergangenen Kunstströmungen anhing und der die Milieus der schwarzen und grünen Konservativen wie auch der Linken verachtete, hat Zeit seines Lebens „viel Feind gemacht“ – wie man in Anlehnung an Ernst Jünger, einen frühen Lieblingsautor Bohrers – festhalten könnte. Der Begriff „Gutmensch“ – 2016 zum Unwort des Jahres gewählt – geht auf einen Text Bohrers aus dem Jahr 1992 in der von ihm herausgegebenen Zeitschrift Merkur zurück. Im „guten Menschen“ kulminierten in der Sicht Bohrers Provinzialität und Moralismus. Deshalb geißelte er ihn. Provinzielles Denken verortete er aber nicht nur im linksliberalen Lager jener Jahre, sondern auch bei der Rechten. Legendär seine Verknüpfung der beiden „Birnen“ Helmut Kohl und Louis Philippe im Jahr 1984. Der französische Bürgerkönig und der CDU-Bundeskanzler seien sich nicht nur wegen ihrer, so Bohrer, „birnenförmigen Erscheinung“, ähnlich, sondern auch wegen der in ihren Zeiten entstehenden politischen und wirtschaftlichen Eliten. Absolute Verantwortungslosigkeit präge diese, kein Stilgefühl hätten sie, stattdessen ein Sielen in der eigenen Lächerlichkeit, die alles möglich mache. Kohl-Nachfolgerin Angela Merkel bezeichnete er in einem Interview mit der Süddeutschen als „endgültige Banalfigur Mensch“. Bohrer unterstellte ihr „Verfall von Distinktionsfähigkeiten“, „extrem banale Sprache“ und eine „Drögigkeit der schieren Faktizität“. Seine Idole fand Bohrer im Exzess. RAF-Macho Andreas Baader soll er bewundert haben, mit Ulrike Meinhof verband ihn eine längere Freundschaft. Literarisch faszinierten ihn neben Jünger vor allem Baudelaire und Hölderlin.

An England, wo er zeitweilig lebte, mochte er vor allem dessen „Lust am Untergang“. Dies machte er vor allem in den 1970er und 80er Jahren bei der britischen Oberschicht aus, die sich an keine Konventionen hielt und bei den Proleten, von denen sich die einen dem Punk und die anderen dem Hooliganismus hingaben. Bohrer, Literaturredakteur und Literaturprofessor, brachte aus England auch die Liebe zum Fußball mit. Das war eine echte Außenseiterposition in den damaligen akademischen Milieus.

In Wikipedia fand Aufnahme, dass die Formulierung „aus der Tiefe des Raumes“, angewandt auf den damaligen Fußdenker Günter Netzer, von Bohrer stamme. Wichtiger war ihm selbst der Begriff der „Plötzlichkeit“, den er als ästhetische Kategorie einführte. Gleicht man diese Lust am „Erwartungsschrecken“ und der „Erwartungsangst“, weiteren Kategorien Bohrers, mit dessen Lebensstationen ab – Erziehung in einem Schwesterinternat von Salem, Redakteurskarriere erst bei Springer, dann Literaturchef bei der FAZ, später deren Englandkorrespondent, danach Professor in der deutschen Provinz – mutet sie wie eine Sehnsuchtshandlung aus tiefster banaler Bürgerlichkeit heraus an.

Bleiben wird von ihm seine herzliche Verachtung jedweden Mittelmaßes, seine Hassliebe zu Deutschland und die Liebe zu England. Bleiben wird auch die Erinnerung an die Multibegabung, sich gleichermaßen gut mit „Birne“ und Baudelaire, Baader, Netzer und Jünger auszukennen. Und wenn sein Tod zur Wiederentdeckung seiner Frau, der früh verstorbenen Schriftstellerin Undine Gruenter führt, wäre dies ein feiner Nebeneffekt.