Viele trauern, wenige plaudern, einer wütet

Er allein formuliert nach den Anschlägen laut Kritik an Blairs Irakkurs: George Galloway, der charismatische Führer der neuen Linkspartei

LONDON taz ■ Das Viertel um den Londoner Russell Square besteht vor allem aus Universitätsgebäuden und Hotels. Am Wochenende nach den Terroranschlägen vom Donnerstagmorgen bewegt sich hier nur wenig. Die meisten Straßen sind abgesperrt. Weiße Sichtblenden, hoch wie Häuser, verdecken den Blick auf zwei Orte: Aus der U-Bahn Station Russell Square werden immer noch die Toten aus der engen Röhre der Piccadilly Line geborgen. Und am Tavistock Square wird der Bus untersucht, den eine Bombe aufgerissen hat wie eine Sardinenbüchse. Am Freitag drang jedem noch alle paar Minuten die Sirene eines Kranken- oder Polizeiwagens durchs Mark. Seit Samstag jedoch ist es ruhig.

„Es wurde Wahrheit benötigt“

Nur rings um die School of Oriental and African Studies herrscht angeregte Plauderstimmung: Die Socialist Workers Party (SWP) hat zur Konferenz „Marxism 2005“ geladen. Hunderte von Leuten verteilen sich im Zweistundentakt auf Dutzende von Vorträgen über Imperialismus, Revolutionsaussichten, linksradikalen Islam und so weiter. Bei der Theorie- und Geschichtsveranstaltungen ist Lenin ein großes Thema – und warum nicht alles an ihm falsch war. Aktuell aber spielen auch die Anschläge vom 7. Juli eine gewisse Rolle.

„Es wurde Wahrheit benötigt“, ruft George Galloway unter Jubel und Klatschen der rund 700 Zuhörer in den überfüllten Vorlesungssaal. Deshalb habe er schon am Donnerstag im britischen Parlament erklärt, dass die Anschläge auf London als eine Folge des Irakkriegs angesehen werden müssten, den die britische Regierung unter Tony Blair führt. Keiner seiner lügnerischen und heuchlerischen Mitabgeordneten habe hierzu den Mut gehabt. „Keiner von ihnen hat eine Träne über diejenigen vergossen, die in Falludscha gestorben sind“, donnert Galloway in den Applaus hinein. „Natürlich liegt die Hauptverantwortung für die Bomben bei denen, die sie gelegt haben“ – aber ihre Taten könnten nicht „von den Verbrechen losgelöst werden“, die von der Blair- und der US-Regierung nach dem 11. September 2001 in Afghanistan und im Irak begangen worden seien.

Galloway ist ehemaliger Abgeordneter von Blairs Labour-Partei. Doch bei den jüngsten Unterhauswahlen im Mai trat er für ein neu gegründetes Antikriegsbündnis namens „Respect“ an und ist so zum Anführer einer fusionierten Linken geworden. Galloway ist mit einer Rhetorik, einem Witz und einem Ego gesegnet, die allesamt Lafontaine wie einen bescheiden argumentierenden Parteibibliothekar wirken lassen. Galloway inszeniert sich als Einzigen, der im Namen aller Respect-Anhänger die Wahrheit über den Irakkrieg und Blair sagt, wofür die große Politik und die Medien ihn angeblich hassen und jagen. Dabei wirft die Presse ihm in diesen Tagen bloß eines vor: Er habe allzu schnell verkündet, immer gewusst zu haben, dass Blair den Terror über Großbritannien bringen werde. Dass der amerikanische und britische Krieg mit den Anschlägen zu tun hat, leugnet in London kaum jemand außer Blairs Kabinett selbst. Die Frage ist eher, wann Erschütterung und Mitgefühl von Rechthaberei und Schuldverteilen abgelöst werden dürfen.

Die Friedensmahnwache am Samstagnachmittag, zu der die halbe Marxism2005-Konferenz pilgert, findet einen einfühlsamen Ton. Jeder sagt, dass die Terroropfer in den U-Bahnen und im Bus vor allem Londoner auf dem Weg zur Arbeit waren – harmlos, ethnisch vielfältig und gewiss nicht reich. Die Bilder der Vermissten zeugen davon. Sie werden in allen Zeitungen abgedruckt und hängen auch zu hunderten im Viertel. Die Angehörigen und Freunde von Monika Suchocka, Slimane Ihab, Neeti Jain und Jamie Gordon haben mittlerweile sicherlich auch die Krankenhäuser abgesucht. Es ist, als wären die Fotokopien an Laternenpfählen eher Teil einer öffentlichen Trauer als einer Hoffnung, dass die Öffentlichkeit bei der Suche helfen könnte.

Die Blumen stapeln sich

Auch Blumen werden gebracht. Am Freitag sah man nur einzelne Sträuße, die mit Absperrband an Zäune gebunden wurden. Mittlerweile stapeln sich die plastikverhüllten Gebinde an den Orten der Anschläge. Wer sie bringt, wird oft von Fernsehkameras verfolgt – und von Scientology-Vertretern: Mädchen, die kaum 18 sein können, in gelben Pullovern verteilen Flugblätter, auf denen psychologische Unterstützung angeboten wird.

Auf dem Russell Square lassen sich Menschen zum Picknick im Gras nieder – auch Marxism2005-Teilnehmer mit ihren unverkennbaren Parolen-T-Shirts. Als eine Kamera hinüberschwenkt, steht ein Pärchen wieder auf: „Die Welt soll nicht denken, dass wir hier in der Sonne essen, während 30 Meter unter unseren Füßen Tote aus einer U-Bahn gekratzt werden“, sagt die junge Frau. „Aber was sollen wir sonst tun?“