berliner szenen: Leerlauf in mir – und am Ostkreuz
Ich muss raus aus Berlin, aber der Zug kommt nicht. Warum bloß kommt der Zug nicht? Niemand weiß etwas. Die Menschen an den Schaltern haben keine Ahnung. Auch die digitalen Anzeigedienste versagen. Überall Leerlauf. Tief in mir drinnen und auf dem Gleis 8 am Ostkreuz, wo ich seit zwanzig Minuten wie ein Idiot herumstehe. Dabei ist es nur ein Nahverkehrszug, mit dem ich aus Berlin rauswill. Die große Flatter brauche ich gar nicht. Die kleine Märkische Schweiz ist völlig in Ordnung. Ich will meine Freundin anrufen und ihr mein Leid klagen, aber der Akku ist leer. Das musste ja so kommen. Schon als ich das Haus verlassen wollte, war klar, dass mit diesem Tag nicht zu spaßen sein würde. Die Müllabfuhr hatte die großen gelben Tonnen wieder mitten im Hausflur stehen lassen, sodass ich mit dem Fahrrad fast nicht vorbeigekommen wäre. Vor dem Haus traf ich dann die fröhliche Frau Weber, die ich immer treffe, wenn ich es eilig habe. Die fröhlichen Frau Webers dieser Welt verwalten die überschüssige Zeit ihrer Nachbarn, habe ich in der taz gelesen. Das Frau-Weber-Phänomen ist also nicht ungewöhnlich, in jedem Mietshaus gibt es Nachbarn wie Frau Weber, denke ich, während ich resigniert der Durchsage zuhöre, dass der Zugverkehr auf Gleis 8 bis auf Weiteres eingestellt wurde. Meine ständige Hetzerei sei nicht mitanzusehen, sagte sie mir heute fröhlich wie immer vor der Haustür, was mich völlig aus den Konzept brachte. Vielleicht erklärte ich ihr darum lang und breit, wieso ich aus Berlin rausmusste. „Berlin sackt alles Menschenmögliche ein, gibt aber nie von sich aus etwas zurück. Um das kleinste Glück muss man kämpfen“, sagte ich nach einer gefühlten Ewigkeit, um mich dann auf mein Fahrrad zu schwingen und grußlos davonzufahren. Gerade noch rechtzeitig war mir wieder eingefallen, dass ich es eilig hatte.
Henning Brüns
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