: Verfall als Ereignis
Einer, der es noch ernst meinte mit der Entgrenzung: Dem Wahlhamburger Dieter Roth (1930–1998) widmet das Sommerfestival der Kulturfabrik Kampnagel einen kleinen Programmschwerpunkt
Von Jens Fischer
Ein Gegenmodell zum Hanseatentum: Dieter Roth (1930–1998) war ein künstlerisch-egomanischer Universalist. Geboren in Hannover und von den letzten noch dort herumschwebenden Schwitters-Aerosolen mit dem Dada-Virus infiziert, wurde er 1943 in die Schweiz geschickt, der Rest der Familie folgte nach Kriegsende. Von dort aus und später – der Liebe wegen – auch auf Island feierte er die losen Enden seines Selbst; als Konventionen überschreitender Sammler und versponnener Gestalter von Lebensspuren. Diesem Mann also widmet(e) das überhaupt gerne mit Entgrenzungsstrategien spielende Sommerfestival der Hamburger Kulturproduktionsstätte Kampnagel einen kleinen Programmschwerpunkt.
Noch ein paar Mal zu hören ist ein klanggestalteter Ausstellungsführer durch das – von ihm selbst gegründete – „Dieter Roth Museum“; vorerst kein weiteres Mal zu erleben ist der höchst musikalische Theaterabend über den rastlosen Künstler. Denn Roth malte, zeichnete, musizierte, schuf Skulpturen, gestaltete Bücher, dichtete, tischlerte Möbel, kreierte Schmuck, bastelte Installationen, Objekte, Assemblagen, gewährte Interviews und erklärte sie zur Kunst, nahm auch TV-Reality- und Youtube-Shows vorweg durch das Abfilmen des täglich Gelebten: Roth liest, schläft, grübelt, kocht, pisst, säuft, duscht, telefoniert, dichtet, zeichnet …
Schier unüberschaubar sind die von ihm ausprobierten Medien, Stile und kunsttheoretischen Ansätze, wobei Roth nie weltmeisterlich gut war, aber immer hintergründig humorvoll in seiner perfekten Darstellung des Nichtperfekten. Gern arbeitete er mit Verwesung und forderte mit seinen Schimmelwerken die aseptische, geruchsfreie Kunstwelt heraus: organischer Verfall als ästhetisches Ereignis – und Verweis auf des Menschen unaufhaltsame Verderben und Verenden.
Dass diesem schmuddeligen Anarchisten ausgerechnet im schnieken Hamburger Stadtteil Harvestehude der Nachlass verwaltet wird und sein Werk dort ausschnitthaft auch zu sehen ist, passt gut als Post-mortem-Provokation. Seit den 1970er-Jahren arbeitete Roth bei seinem vielleicht größten Fan unter den finanziell potenten Kunstsammlern und Mäzenen: dem Hamburger Wirtschaftsanwalt Philip Buse. Dabei wucherte die Stadtvilla mit der Roth-Kunst soweit zu, dass der Eigentümer schließlich auszog und das Haus zum Museum erklärte. Das ist selbst vor Ort in Hamburg kaum bekannt, einzig das Klingelschild weist am Gebäude darauf hin. Besuche sind lediglich geführt und nach Voranmeldung möglich. Dank des erwähnten Sommerfestivals derzeit aber fast täglich.
Also hinein in eines der schönsten – und unangenehmsten – Viertel der Hansestadt: Überall mächtige alte Bäume, Parkplätze voller mächtig lächerlicher Angeberkarossen vor mächtig jugendstilisierten Gründerzeithäusern. Vor Selbstzufriedenheit schwitzende, sinnlosen Reichtum ausstellende Menschen sind dort zu erleben – erstaunlich wie klischeehaft Realität wirken kann. Auch das Parkett des Roth-Museums, Abteistraße 57, darf der Besucher nur mit Schuhüberziehern betreten.
Goldglanz und Abfall
Umso beeindruckender dann die Irritation: im großbürgerlichen Edelambiente sind bezaubernd ungewöhnliche Verarbeitungen alltäglicher Materialien ausgestellt, inszeniert als hehre Kunst. Neben der Marmortreppe mit golden glänzendem Geländer steht eine grau übermalte Sammlung von Abfall. Zu den Konferenzmöbeln in Leder, den Vasen, Antiquitäten und dem Porzellan in den Kanzleiräumen sind frühe Grafiken arrangiert, Drucke, Gewürzpulverbilder, Künstlerbücher, im Vakuum zerfallende Lebensmittel. Auch diverse ihren konstruktivistischen Ansatz verwirbelnde Gemälde hängen an der Wand. Und da steht Roths vom Zahn der Zeit benagtes Selbstbildnis aus Schokolade und Samenkörnen, „Portrait of the Artist as Vogelfutterbüste“. Wunderbar auch seine Nachbildung des Dürer-Hasen aus Hasenkötteln und Stroh.
In einem mit Kassetten und Billig-Hifi-Müll geschmückten Raum bietet der eigens fürs das Festival kreierte Audioguide nun schrullige Aufnahmen Roths für Akkordeon, Kassettenrecorder, Toypiano, Radiofrequenzen und selbst gelesene Texte: „Zwischen U und dem Nix (Mein Gehirn ist mein Magengrab)“, so der Titel. Im Raum mit den kinetischen Arbeiten kommt im Kopfhörer dann der Theatermacher Christoph Marthaler auf seine Begegnungen mit Roth zu sprechen. Auch ein Telefongespräch mit Wolfgang Müller ist zu hören, der selbst Roth-Gedichte vertont hat.
Als Audioguide ist das alles so naheliegend wie schlicht gemacht, inhaltlich und ästhetisch aber eher dürftig: Außer ein paar O-Tönen und Klangcollagen landet nichts Hintergründiges zu Leben und Werk auf dem MP3-Player, wurde keine hörspiel oder auch nur podcastadäquate Form gefunden. Immerhin: Es gibt einen journalistischen Ansatz, von der Kunst zurück in die Wirklichkeit zu recherchieren. Roth nahm Gebell von Straßenhunden auf, die bis zum Einschläfern in einem Zwinger tobten, formte daraus eine Gekläff-Sinfonie und ergänzte diese mit Fotos und Zeichnungen der Vierbeiner. Zu dieser Installation ist nun ein Bossa Nova aus Hundelauten zu hören, dazu kommen Schnipsel eines Interviews mit einem dieser traurig machenden Menschen, der mit einem für den Hausgebrauch gezüchteten Vierbeiner lebt, redet und fühlt als wäre das Tier sein Kind. Leider verweigert es der Audiobeitrag aber dann wieder, nun die Themen Straßenköter, tierische Musik und vierbeiniger Kuschelfreund irgendwie zusammenzudenken oder zurückzubinden an die Roth’sche Kunst.
Auf zu Kampnagel, wo der erwähnte Marthaler mit seiner brillant durchkomponierten Inszenierung „Das Weinen (Das Wähnen)“ zu Gast war: Wie im Museum sucht auch der Theatermann als Wirkungsort der derb-frechen Roth-Kunst – in diesem Fall dessen verspielter Sprach-Kunst –, einen Gegenentwurf. Und findet ihn auch: in der illusionistischen Nachbildung einer pikobello sterilen Apotheke. Roths Gedichtsammlungen haben so schöne Titel wie „Die gesamte Scheiße“, der Autor führt darin Sprache an ihre Grenzen und darüber hinaus – ad absurdum. Marthaler sucht und findet in den Texten die Musikalität, nimmt sie zum Anlass für Sing-, Sprech-, Körper- und Gestenchoreografien.
Melancholie der Kommunikation
Herbert Fritschs einst auch in Hamburger und Hannover gezeigter „Murmel“-Abend war die erste bedeutende Inszenierung der Roth-Literatur; das Libretto basierte auf einer 170 Seiten langen, nur grafisch immer wieder neuen Aneinanderreihung des titelgebenden Wortes. Marthaler setzt nun eher auf die Melancholie in der Bedeutung und Botschaft zersetzenden Kommunikation. Weshalb als Leitmotiv immer wieder Mozarts „Lacrimosa“ erklingt, „Crying in the Rain“ angestimmt wird, aber auch mehrfach eine LP aufgelegt mit Tschaikowskis Vertonung einer Senkgrube voller Tränen: dem „Schwanensee“.
Auf der Bühne sind weiß bekittelte Apothekerinnen am Start, mal solo, aber auch im Chor stets hinreißend präzise in der Singsang-Rezitation der Silbensalate, Worte-Pürees oder diätischen Buchstabenauslassungskost. Wider diese komponierte Unordnung arbeiten die Frauen zugleich an der Ordnung in den Regalen. Besonders schön: Beipackzettel werden vorgelesen, als handele es sich um absurde Poesie. Der clownesk durchgearbeitete Marthaler-Abend bündelt die vorgetragene Lyrik zu einer Sprachgesangsbewegung ins Sinnlose – und einer Ode an den Unsinn. Das bringt Roths Kunst der Dekonstruktion prima auf den Punkt.
Für Dieter Roth– Audioguides von Nika Son, Annika Kahrs, Felix Kubin, Christoph Marthaler, Michaela Melián und Wolfgang Müller: 12., 13. + 15. 8., jeweils 16, 17, 18 + 19 Uhr, Dieter Roth Museum, Hamburg;www.dieterrothmuseum.org
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