Aus der Tiefe in die Höhe

Die Bremer Kunsthistorikerin Barbara Alms hat ein Buch über das Gebirgige in der Malerei geschrieben. Fast schon peinlich groß ist die kunsthistorische Lücke, die sie damit füllt. „Die gleißenden Gipfel“ blättern ein Panorama auf, dem niemand sehnsüchtiger verbunden ist als das flache Norddeutschland. Diskursive Tiefen hingegen scheut sie

Städtisch gekleidet und selbstbewusst im Hoch­gebirge: Als „Bergsteigerin“ porträtierte Jens Fer­dinand Willumsen 1912 seine Frau Edith Foto: Statens Museum for Kunst, Kopenhagen © VG Bild-Kunst, Bonn 2018

Von Benno Schirrmeister

Oh, ja die Alpen! Überhaupt das Gebirge! Was nirgends so schön scheinen kann, wie wenn es froschig von der norddeutschen Tiefebene aus betrachtet wird, darüber hat die Bremer Kunsthistorikerin Barbara Alms ein Buch geschrieben: „Die gleissenden Gipfel – Malerei zwischen Mythos und Moderne“ füllt in seiner Hinwendung zur Gebirgsmalerei eine Lücke, die fast als Abgrund in der Kunstgeschichtsschreibung gelten kann: Eine monografische Auseinandersetzung mit dem Berg in der Kunst hatte es, jenseits von Studien über Paul Cézannes spezifisches Verhältnis zur Montagne Sainte Victoire, bislang nicht gegeben.

Was fast schon peinlich ist. Denn Malerei ist immer verbunden gewesen mit dem diskursiven Denken seiner Zeit: als dessen Ausdruck, Darstellung und Reflexion. Und die Sehnsucht nach frischer Gebirgsluft, die freeclimbende Selbsterprobung an der nackten Felswand und die segensreiche Blutvermehrung durch Höhentraining, das sind nur aktuelle Phänomene, die aus einem Aneignungsprogramm, hervorgehen, das kennzeichnend ist für die Neuzeit.

Diese beginnt damit, und nicht erst mit Columbus’fehlgeschlagener Segelpartie: „Dabei trieb mich einzig die Begierde, die ungewöhnliche Höhe dieses Flecks Erde durch Augenschein kennenzulernen“; das schrieb, noch auf Latein, der italienische Dichter Francesco Petrarca im April 1336 über seine Besteigung des Mont Ventoux. Und dieser modernistische Impuls, die Sphäre des Gipfels sinnlich und nur als sie selbst zu erfahren, ist auf eigentümliche Weise dialektisch verschränkt mit der anti­modernen Verklärung des gebirgigen Exils bei Jean-Jacques Rousseau zu einem Ort, an dem die Atmung leichter fällt und der Geist gelassener wird, sodass die Gedanken sich aufschwingen können „Zu einem ich weiß nicht wie großen und erhabenen Charakter, der den Gegenständen, die uns umgeben, angemessen ist“, wie es im Briefroman „La Nouvelle Héloïse“ heißt:

Die Gegenstände, die uns umgeben: Das sind in diesem Falle Gipfel, Gletscher und ganze Berge, die, auch einer Direktive Rousseaus folgend, von der Malerei der Neuzeit mehr und mehr als Sujets bearbeitet werden – mit schwankendem Autonomie-Grad. Alms hat nun die Umrisse der Geschichte dieses Bildgegenstands sichtbar gemacht, ausdrücklich ohne der Versuchung nachzugeben, dieses Hin- und Her seines Status mithilfe einer schmissigen These zu glätten: Weder bestimmt die ehemalige Leiterin der Städtischen Galerie Delmenhorst – die durch die Wiederentdeckung des vergessenen Expressionisten Fritz Stuckenberg dieser Schlafstadt Bremens zu einem Eintrag auf der Landkarte der Kunstgeschichte verholfen hat – zum Gipfel der Bergmalerei Cézanne, der den Hausberg von Aix-en-Provence ins Spiel seiner Geometrie auflöst. Noch widersteht sie der Versuchung, einen simpel-romantisierenden Blick aufs Gebirge zu verallgemeinern.

Der deutet die Außenseite des Gebirges – die fürs damalige Denken fast noch wichtigeren Innereien thematisiert Alms nicht – geradezu zwanghaft als Ort der Transzendenz in himmlische Sphären. Von frommen Alpinisten wird es zumal im 19. Jahrhundert deshalb ganz oben mit Gipfelkreuzen ausgestattet; von aufgeklärten aber auch, weil das prima Blitzableiter sind.

Aber infolge der Thesenarmut gerät das Buch eben auch tendenziell zum Katalog einer imaginären, am eigenen Material berauschten Ausstellung, die Oberflächen sammelt, und die in ihnen sich niederschlagende gedankliche Arbeit des Malens übersieht – auch weil terminologisch vage bleibt, ob die Studie von Gipfeln, von Gletschern, von Bergen oder Landschaften mit tiefen Tälern handeln will. Ein paar Bilder werden sogar ganz ohne sinnvollen Bezug eingestreut. So ist klar, dass Pekka Halonens „Wäschewaschen auf dem Eis“ trotz eines Fuzzi-Hügels hinter den Bäumen im rechten Bildhintergrund in der Geschichte der Bergmalerei keine Rolle spielen kann.

Aufs Ganze gesehen ist diese fehlende gedankliche Auseinandersetzung ein Makel des Buchs. Die Darstellung der Bergeshöhen als einem privilegierten Ort der Transzendenz und mystisch-religiösen Erfahrung etwa macht Alms nachvollziehbar an der „breiten romantischen Sakralisierung“ fest, die sie in der Malerei Caspar David Friedrichs erfährt. Sie erinnert auch daran, dass die „christlich überformte Landschaftsdarstellung“, die den spezifischen Reiz – bei manchen: Brechreiz – von dessen „Tetschener Altar“ ausmacht, in der Entstehungszeit kontrovers war: Die nach dem Aggressor Basilius von Ramdohr benannte Auseinandersetzung ist eine wichtige kunsthistorische Hausnummer.

Zu behaupten, 1729 falle „zum ersten Mal in der deutschen Literatur der Schlüsselbegriff ‚erhaben’“, ist so falsch, dass es schon fast wieder lustig ist

Dem Thema angemessen wäre nun gewesen, hier nachzuhaken, die Argumente beider Seiten darauf abzuklopfen, was daran nicht nur die theosophisch-spinozistische Aufladung von Landschaft im Allgemeinen berührt. Sondern die vom Gebirge im Besonderen: Entzündet sich dieser Glaubenskrieg nur zufällig am „Kreuz im Gebirge“ und nicht an der „Abtei im Wald“? Begünstigt die Felsigkeit und seine erhöhte Perspektive die spätere Vereinnahmung als Ikone der Blubo-Ästhetik? Keine Antwort: Alms vermeidet regelrecht, irgendwo in die Tiefe zu gehen. Sie schweigt über die Rezeption und referiert den erwähnten „Ramdohrstreit“ in nachschlagewerktäglicher Oberflächlichkeit, so wie sie an anderer Stelle sich damit begnügt, Pieter Bruegels „Jäger im Schnee“ von 1565 als „das erste großformatige europäische Schneegemälde“ vorzustellen und seinen herausragenden Charakter in Superlativen zu beschwören: Nie zuvor habe „ein Künstler mit so beeindruckender Realitätshingabe und Lebendigkeit den für seine Zeitgenossen grauenhaften Anblick von Hochgebirge“ festgehalten. Das passt schon. Bloß wäre doch dann wohl zu klären gewesen, wieso nun diese Hochgebirgslandschaft im Hintergrund eines friedlich-verschneiten niederländischen Dorfs auftaucht; das passt so gar nicht zur „beeindruckenden Realitätshingabe“.

Es sind einige sachliche Fehler im Buch, die ein Lektorat hätte ausmerzen müssen. Manches wirkt einfach wunderlich, so Alms Staunen über „gleißende Gipfel“ in der Malerei von der ja doch extremgebirgigen skandinavischen Halbinsel. Anderes ist ärgerlich: Das „Theatrum Orbis Terrarum“ aus dem 16. Jahrhundert als „erste Weltkarte“ zu bezeichnen ist in einem so geografieaffinen Zusammenhang ein herber Faux Pas. Und zu behaupten, in Albrecht von Hallers Lehrgedicht „Die Alpen“ (1729) falle „zum ersten Mal in der deutschen Literatur der Schlüsselbegriff ‚erhaben’“, ist so falsch, dass es schon fast wieder lustig ist. Weder greift ja von Hallers „erhab’ner Gotthard“ auf die für die Ästhetik relevante begriffliche Neubestimmung des Erhabenen durch David Hume vor, noch ist der Ausdruck originell: Die deutschen Mystiker der Gotik hatten das Wort schon geliebt, und gerade im Barock erfreut es sich großer Beliebtheit, mindestens, wenn’sum Berge geht, wie etwa in Harsdörffers Poetischem Trichter (1653), der „ihre stolz erhabn’e Zier“ – und das ist wirklich speziell – zu Mahnmalen für den Frieden macht.

Was bleibt, ist ein schönes Bilderbuch: Es blättert ein reiches Panorama auf, das zu sichten überfällig war. Die Auseinandersetzung mit der Frage, warum es erst jetzt und erst von der norddeutschen Tiefebene aus in den Blick kommt, bleibt unbearbeitet. Mit ihr hätte es ein großer Wurf werden können.

Barbara Alms: Die gleißenden Gipfel. Malerei zwischen Mythos und Moderne. Wienand, Köln 2021, 272 S., 28 Euro