berliner szenen
: Nur Krümel zur Belohnung

An der verkehrsberuhigten Straßenecke treffen sich zum Feierabend zwei Familien. Die Frauen trinken Mineralwasser aus Plastikflaschen, die Männer rauchen und knacken Kürbiskerne, die Kinder sind mit einer Großpackung Schokobonbons beschäftigt. Ein Mädchen hält dem Vater ein Bonbon hin, der lächelt gerührt und lobt, dass sie mit ihm teilen will. Er isst die Schokolade, behält dabei das Einwickelpapier spitz zwischen Daumen und Zeigefinger und guckt sich hilfesuchend um, bis seine Frau es ihm abnimmt. Als die Kinder anfangen zu quengeln, ruft er ihr etwas zu. Sie verschwindet kurz und kommt mit einer Packung Kekse zurück. Der Mann reißt die Schachtel mit abgespreizten Ellenbogen und kraftvollen Bewegungen auf, als sei sie mit Metallgurten verschlossen. Die oberste Schicht Kekse, leicht bröckelig durch das Aufreißmanöver, isst er selbst, offensichtlich mit Heißhunger. Dann kommt seine Kleine angelaufen. Er steckt ihr die Stücke einzeln in den Mund, bis sie sich den Bauch hält. Es ist immer noch genug da: Jetzt sind die anderen Kinder an der Reihe, die schon erwartungsvoll gucken. Nur ein Mini-Rest bleibt in der Schachtel übrig. Der Mann dreht seinen ausgestreckten Arm dorthin, wo seine Frau steht, ohne das Gespräch mit dem Kumpel zu unterbrechen oder seinen Blick zu wenden. Nichts passiert, der ausgestreckte Arm bleibt im rechten Winkel in der Luft stehen, die Finger flattern. Schließlich dreht sich der Mann zur Seite und bedeutet seiner Frau ungeduldig, die Schachtel entgegenzunehmen, er weist aufmunternd auf die restlichen Kekskrümel. Sie will keine Krümel. Der Mann guckt grimmig, macht eine missmutige Bemerkung, bis sie ihm schließlich schulterzuckend die Schachtel abnimmt und zum einige Schritte entfernten Abfalleimer geht. Warum macht sie das?

Claudia Ingenhoven