Freiheit der Körper

Mit der Premiere der Show „Circus“ kehrt das Bremer GOP Varieté-Theater aus dem Lockdown zurück

Entkopplung ist Freiheit, solange die Musik nicht nervt Foto: Rahlph Mohr/GOP

Von Benno Schirrmeister

Schwierig ist es ja auch in Schauspiel oder Oper, die Spannung zu halten, und sicher, erst recht im Tanztheater. Aber vielleicht ist eine neunmonatige Zwangspause, wie sie die Pandemie erforderlich gemacht hat, für die pure Körperkunst der Akrobatik noch härter zu ertragen: formal, weil ihre Ak­teu­r*in­nen eben oft nicht als Ensemblemitglieder abgesichert sind. Im Fall der Ar­tis­t*in­nen der GOP-Show „Circus“, die am Freitag in Bremen Weltpremiere gefeiert hat – und ja, sie war umjubelt! –, gehören die meisten zum Team des Circus-Theaters Bingo in Kiew. Die Varieté-Gruppe hat ihnen Wohnungen in Deutschland überlassen und Trainingsräume. Aber visatechnisch waren einige genötigt, im Winter in die Ukraine zurückzukehren – und dort hat es keinerlei staatliche Hilfen für Künst­le­r*in­nen im Lockdown gegeben.

Aber auch inhaltlich trifft sie das auf besondere Weise. Akrobatik verweist ja auf nichts außer sich selbst. Sie hat keinen Sinnstiftungsauftrag und produziert auch nicht, wie der Sport, dieses dumme Fest der Konkurrenz, Sie­ge­r*in­nen und Loser. Diese Kunst erzählt keine Geschichten, und der klägliche Versuch, der Show einen narrativen Rahmen zu geben, scheitert nur deshalb nicht, weil die läppische Handlung so unauffällig bleibt: Eine Frau sei auf einer Zugreise in einer fremden Stadt gelandet und dort, völlig verloren, auf eine Zirkustruppe getroffen, die sie nach und nach bei sich aufnimmt. Der künstlerische Direktor Werner Buss hat nach der Show noch einmal erläutert, was man sich vorher bemüht hatte zu ignorieren: Wozu Vorwände liefern für etwas, das keine braucht? Und warum es mit überlauter Diskomusik zudröhnen? Traut man der eigenen Magie nicht?

Letzteres ist auch ein choreografisches Problem: Perfekt aufeinander abgestimmt sind Klänge und Artistik in der rasanten Partnerakrobatik von Vilaii Neponiashchyi und Dmytro Naumenko, die in Lederkutten und mit unglaublicher Vitalität eine ihre Kraft feiernde metrosexuelle Männlichkeit in Reinform präsentieren: supersynchrone Flugrollen, von tänzerischer Unangestrengtheit noch, während der eine der Partner auf dem Kopf des anderen Einhand-Formen turnt, im Dialog mit Riffs einer Hardrock-E-Gitarre.

Akrobatik verweist auf nichts außer sich selbst. Sie hat keinen Sinnstiftungsauftrag

Eine Schere hingegen tut sich auf zwischen dröhnender Konservenmucke und stiller, auf ihre Weise poetischer Kontorsion. Schlangenmenschen hat man diese Künst­le­r*in­nen früher genannt, und Anna Pieies kann ihren Leib wirklich so verbiegen, wie sie will, und sie macht es. Sie bewegt sich so, dass jedes ihrer Glieder autonom wirkt, ganz für sich steht, hier Kopf, da Rumpf, als wären sie getrennt: Das wäre ein surreales Moment absoluter Freiheit des Körpers und wunderschön, wenn nicht der Krach aus der Lautsprecherbox an die Sterblichkeit erinnern würde. Durch Ohrenschmerzen.

„Circus“: bis 12. 9., GOP Varieté-Theater Bremen. Karten und Infos: http://www.variete.de