Osman Engin Die Coronachroniken
: Corona als letzte Hoffnung

Foto: privat

Osman Engin ist Satiriker in Bremen. Zu hören gibt es seine Kolumnen unter https://wortart.lnk.to/Osman_Corona. Sein Longseller ist der Krimi „Tote essen keinen Döner“ (dtv).

Ich gehe mal wieder meinen depressiven Nachbarn Rüdiger besuchen, um mit ihm zusammen lethargisch die Decke anzustarren. Natürlich mit Mundschutz und im vorgeschriebenen Zwei-Meter-Corona-Sicherheitsabstand.

Als vor einigen Jahren in Deutschland die Wohnungen von Ausländern abgefackelt wurden, war er sehr solidarisch mit uns. Der gute Rüdiger hatte sich sogar die Haare schwarz gefärbt und sich einen dicken Schnurrbart angeklebt. Außerdem trug er einen riesengroßen Aufkleber auf der Jacke, auf dem stand: „Ich heiße Abdullah“.

Er war jeden Abend bei uns und aß bis Mitternacht Köfte und Börek und starrte wie immer völlig abwesend die Decke an. Wir starrten den Fernseher an.

Dann beichtete er mir schweren Herzens, dass er ein gescheiterter Selbstmörder war. „Letztens habe ich zwei Flaschen Zyankali geschluckt“, sagt er. „Aber Zyankali wirkte nicht bei mir. Davor habe ich mich vor einen Güterzug geworfen, aber der Zug wurde umgeleitet. Hab mehrmals versucht, mich aufzuhängen, aber das Seil ist immer wieder gerissen. Und in deiner Wohnung hat es auch nicht funktioniert. Was bist du denn für ein Ausländer, dem kein Nazi die Wohnung abfackeln möchte?“, schimpfte Rüdiger.

„Es tut mir leid, dass ich dir nicht helfen konnte“, sagte ich, aber mein Mitleid hielt sich verständlicherweise sehr in Grenzen, dass meine Wohnung keine Zielscheibe der Nazis war.

Seitdem geht Rüdiger nicht mehr aus dem Haus. Er hat sich lange vor Corona Stubenarrest angeordnet, lange bevor der Chinese diese verhängnisvolle Fledermaus auf den Grill schmiss.

Ich weiß auch nicht, wie er sich ernährt. Mit den paar Köfte und Börek, die ich ihm ab und zu mal mitbringe, kann kein normaler Mensch überleben. Aber was ist bei Rüdiger schon normal?

Gestern habe ich ihn wieder besucht und wir starrten zwei Stunden lang die große, schwarze Spinne an der Decke an, die wir Carmen tauften.

„Gestern hat sich Carmen auch nicht bewegt“, murmelte Rüdiger geistesabwesend.

„Wieso gehst du denn nicht mal Brötchen holen? Dann würde es hier auch nicht so bestialisch stinken?“, fragte ich.

„Was kommt dann? Duschen? Kochen? Arbeiten? Heiraten? Kinder machen? Scheidung? Nee, neee, neee“, stammelte er leise.

Heute jedoch treffe ich ihn zum ersten Mal in der Bäckerei.

„Na, ist das Leben nicht schön – trotz Corona?“, sage ich hoch erfreut.

„Ansichtssache“, nuschelt er. Nicht wirklich fröhlich zwar, aber er klingt auch nicht so, als würde er gleich mit dem Brötchenmesser Harakiri machen wollen. „Osman, ich werde heute Nacht drei Coronapartys hintereinander besuchen. Ich hoffe, es klappt diesmal!“