Der Einspruch einer Richterin

Eisabeth Borrel hat zwei Kinder. Letztes Jahr sagte ihr Sohn: „Chirac sollte Papas Mörder nicht umarmen“

AUS NANTERRE DOROTHEA HAHN

Die junge Frau hört das Unfassbare. „Das Schlimmste“, wie sie später sagen wird. Ein französischer Diplomat ist am frühen Donnerstagmorgen zu Elisabeth Borrel gekommen, in die Wohnung mit dem Blick über den Golf von Aden. „Ihr Mann hat sich in der Wüste verbrannt“, sagt er. Die 38-Jährige versteht nicht, warum er das getan haben soll. Wohl aber, dass es ein langsamer, quälender Tod gewesen sein muss. Gleichzeitig, und das ist der erste der vielen Widersprüche dieses Falls, teilt der örtliche Vertreter des französischen Entwicklungsministeriums den Kollegen des Toten in Dschibuti mit, es sei schnell gegangen: „Genickbruch.“ Die Leiche von Richter Bernard Borrel ist zu dem Zeitpunkt noch gar nicht geborgen. Sie liegt, teilweise verkohlt, in einem steilen Felshang, 80 Kilometer außerhalb der Hauptstadt. Drei Tage später verlässt Elisabeth Borrel mit ihren beiden kleinen Kindern das Land.

Zehn Jahre sind vergangen. Elisabeth Borrel stellt zwei Aktentaschen voller Dokumente auf das Rollband zum Metalldetektor am Eingang des Gerichts von Nanterre im Westen von Paris: ein kleiner Teil der Akte zu Bernard Borrel. Leise sagt sie „pardon“ zu dem Polizisten, der neben dem Band steht: „Ich trage ein Metalldöschen unter der Haut. Es gibt Dosen von Chemotherapie ab.“ Der Mann winkt sie weiter. Der Metalldetektor piepst. Die dünne Frau mit der wächsern wirkenden Haut hebt das schwere Gepäck vom Band und steigt die Treppe hoch.

Es ist ein drückend heißer Sommertag. Sie ist als Zeugin geladen, und es ist der vierte Verleumdungsprozess, bei dem sie aussagt. Wieder sind Journalisten angeklagt. Sie haben die Parteilichkeit und die Langsamkeit der Justiz im Falle des Richters Bernard Borrel kritisiert, den Frankreich als Berater in das Land am Horn von Afrika entsandt hat und der nie zurückgekehrt ist.

Während die Justiz im Fall Borrel jahrelang an der Selbstmordthese festgehalten hat, zitieren Journalisten Zeugen, die von „Auftragsmord“ sprechen. Und von einer „Staatsaffäre“. Mohamed Alhoumekani, einst Nummer zwei in der Palastwache in Dschibuti, hat vor der Kamera von einem Treffen berichtet, das er im Präsidentenpalast des afrikanischen Landes beobachtet haben will. Am Todestag des Richters seien fünf Männer zum damaligen Stabschef des Präsidenten gekommen. „Der Schnüffelrichter ist getötet“, hätten sie gesagt, „ohne Spuren.“ Der Fernsehzeuge hat die fünf Besucher namentlich genannt – darunter einen Franzosen und einen Libanesen. Der Stabschef Ismaël Omar Guelleh ist heute Präsident der Republik Dschibuti.

Es ist einer der Hinweise, die Elisabeth Borrel zu der festen Überzeugung bringen, dass ihr Mann ermordet wurde. Die Zeugen haben ihre Interviews alle gegeben, nachdem sie ins Ausland geflohen sind. Einer ist in Brüssel. Der andere im äthiopischen Addis Abeba. In Dschibuti können sie nicht sprechen. Das Land ist wegen Folter und Willkürjustiz berüchtigt.

Jedes Mal, wenn ein neuer Verleumdungsprozess stattfindet, ist Elisabeth Borrel die wichtigste Entlastungszeugin. Von Toulouse aus reist sie an die verschiedenen Prozessorte, neulich war sie in Lille, heute sagt sie in Nanterre aus. „Ich muss das machen, sonst werde ich unglaubwürdig.“

Sie hat sich ihr Leben nicht im Aufbegehren gegen den eigenen Staat vorgestellt. Vielmehr zwischen Strafgesetzbuch, Kindererziehung und katholischer Kirche. Sie ist Richterin, wie ihr Mann, den sie 1985 geheiratet hat. „Wir haben uns geliebt. Und wir haben die Justiz geliebt“, sagt sie. Beides in der Vergangenheit. Nun besteht ihr Leben aus Kämpfen. Sie ringt mit dem Krebs. Und sie kämpft mit den beiden Staaten Frankreich und Dschibuti, die behaupten, ihr Mann, habe sich umgebracht.

Erste Zweifel an der Selbstmordthese kommen der Witwe ein paar Wochen nach dem Tod ihres Mannes, als sie die französischen Behörden in Dschibuti um die gerichtsmedizinischen Unterlagen bittet. „Möglicherweise sind die geheim“, antwortet eine Sekretärin am Telefon. Elisabeth Borrel setzt eine neue medizinische Expertise in Toulouse durch. Die ergibt, dass die Brandspuren „untypisch“ für eine Selbstverbrennung sind.

Anschließend wollen die Ermittler die Witwe davon überzeugen, dass ihr Mann in jener Nacht seine Schuhe ausgezogen habe, um barfuß im Dunkeln über die scharfkantigen Felsen herunterzuklettern. Ebenso wenig gibt es eine Erklärung dafür, warum ein zweiter Europäer im Auto sitzt, als ihr Mann das letzte Mal lebend gesehen wird. „Fährt man in Begleitung zum Selbstmord?“, fragt sie.

Dokumente, die Aufschluss über die Todesumstände von Richter Borrel geben könnten, liegen in Paris unter Verschluss. „Verteidigungsgeheimnis“. Dschibuti ist Frankreichs wichtigste ausländische Militärbasis. 2.800 französische Soldaten sind dort stationiert. Sie kontrollieren die Einfahrt in den Suezkanal und die nur 30 Kilometer entfernte Arabische Halbinsel.

Für Dschibuti ist die strategische Lage die wichtigste Einnahmequelle. Und ein politischer Joker. Seit der Unabhängigkeit im Jahr 1977 läuft das Militärgeschäft vor allem mit der einstigen Kolonialmacht. Paris trägt 40 Prozent des Staatshaushaltes. Seit Beginn des globalen Kriegs gegen den Terror interessieren sich auch andere Länder für Dschibuti. 2002 eröffnen die USA eine Basis, wenig später kommen Bundeswehrsoldaten dazu.

Als Richter Borrel stirbt, sind die Franzosen noch allein. Die Ermittlungen laufen zwischen Paris und Dschibuti. Unter Ausschluss der Öffentlichkeit. An einer Rekonstruktion des Todes im Felshang darf die Witwe nicht teilnehmen. Erst sieben Jahre später, Ende 2002, zeigt eine dritte Autopsie, dass Borrel wahrscheinlich schon tot war, als sein Körper in Flammen aufging. Die dritte Autopsie ergibt, dass die linke Elle des Richters gebrochen war. Es kommt auch heraus, dass sein Schädel durch ein „großes Schlagwerkzeug“ verletzt wurde.

„Ich weiß jetzt, dass mein Mann ermordet wurde“, sagt Elisabeth Borrel, „aber ich habe weder das Motiv noch die Täter.“ Die Zeit läuft ihr davon. Seit Jahresanfang ist sie krank geschrieben. Vor dem Gericht in Nanterre nennt Untersuchungsrichterin Marie-Paule Moracchini, die die Verleumdungsklagen gegen Journalisten anstrengt, die Krankheit von Elisabeth Borrel „eine Strategie“.

Sie hat sich an so etwas gewöhnt. „Lass los. Du wirst nicht weiterkommen“, haben ihr einige Kollegen gesagt. Ein ehemaliger Studienkamerad, der Rechtsberater des Staatspräsidenten geworden ist, hat ihr geraten: „Geh zu einem Psychiater.“

Der tote Richter, der als sorgfältig und streng galt, wird in den Dreck gezogen. Posthum kursiert das Gerücht, er habe außereheliche Abenteuer gehabt. Habe unter Depressionen gelitten. Sei pädophil gewesen. Niemand bringt Beweise. Seine Witwe bekommt anonyme Anrufe. Erhält Feuerzeuge per Post.

Am Morgen nach dem Prozesstermin sitzt Elisabeth Borrel in einem Café in Nanterre. Sie wirkt ruhig und lächelt, als sie von den 18 Monaten erzählt, die ihre Familie in Dschibuti verbracht hat. „Unsere glücklichste Zeit“, sagt sie. „Wir hatten endlich Zeit für uns und unsere Kinder.“

Den Borrels ist die Welt der coopération – der französischen „Entwicklungshelfer“ in den Exkolonien – fremd. Sie sind nie zuvor in Afrika gewesen. Nie in einem muslimischen Land. Bei der Ankunft erlebt Elisabeth Borrel ein Land „so schön wie ein Paradies“ und „zugleich völlig verdreckt und verarmt“.

„Der Schnüffelrichter ist getötet“, soll es im Präsidentenpalast von Dschibuti geheißen haben

Richter Borrel arbeitet im Büro neben dem Justizminister. Der Minister gilt Mitte der 90er Jahre als „präsidentiabel“. Doch einige Jahre später, lässt ihn Ismaël Omar Guelleh ins Gefängnis werfen und sich selbst zum Präsidenten wählen. Richter Borrel schreibt in Dschibuti ein neues Strafgesetzbuch. Er verwaltet ein großes Budget zur Modernisierung der dschibutischen Gerichte. Und ermittelt zu einem antifranzösischen Attentat, mit einem Toten und einem Dutzend Verletzten, das 1990 in Dschibuti stattfand. Ismaël Omar Guelleh gilt als Drahtzieher. Seine Informationen gibt Richter Borrel an einen Kollegen in Paris weiter.

Das kleine Dschibuti ist ein Ort für alle möglichen Geschäfte. Auch solche, die in Paris nicht machbar wären. Einmal wird Richter Borrel angereichertes Uran angeboten, nach seinem Tod findet seine Frau in seinen Unterlagen ein Dokument, in dem chemische Produkte und ihre Hersteller aufgelistet sind. Auch angereichertes Uran. „Vielleicht haben die französischen Dienste meinen Mann in irgendetwas hineingezogen“, sagt sie.

Eine Nacht vor seinem Tod geht Richter Borrel unruhig in der Wohnung in Dschibuti auf und ab. Er sagt seiner Frau: „Du bist zu gut für mich.“ Und fügt hinzu: „Ich muss mit dir sprechen. Aber ich kann nicht.“

Sie wird ihr Leben lang über diese Worte rätseln. Genau wie über den Brief, den sie an seinem Todestag findet und der wie ein Abschied klingt. Ihr Mann erklärt darin, dass er das gemeinsame Konto überzogen, das Geld aber nicht ausgegeben habe. Und er gibt ihr Adressen, wo sie seine Sammlung militärischer Medaillen verkaufen kann. Stunden später, als sie bereits über seinen Tod informiert ist, verlangen Gendarmen, dass sie „im Interesse Frankreichs“ nach der Kopie eines Dokumentes sucht. Es handele sich um ein Dokument, das nicht in die Hände Dschibutis fallen dürfe, erklären sie. Die Witwe sucht. Aber findet nichts. Bis heute hat ihr niemand gesagt, was im Original des Dokumentes steht.

„Die Frau ist nicht bestechlich“, sagen jene, die Elisabeth Borrel kennen. Sie hat noch lange nicht die ganze Wahrheit. Aber sie hat es geschafft, Risse in den Panzer zu reißen, der um den Fall errichtet wurde. Frankreichs Verteidigungsministerin musste Geheimdokumente freigeben. Präsident Jacques Chirac musste seinen Kollegen in Dschibuti am Telefon besänftigen. Und im Mai verkürzte Ismaël Omar Guelleh einen auf Tage angesetzten Frankreichbesuch auf ein einziges Gespräch und ließ sich sofort zurück zum Flughafen bringen. Eine neue Untersuchungsrichterin in Paris hatte den Staatsgast als Zeugen vorgeladen.

Ihren Kindern hat Elisabeth Borrel am ersten Tag von einem „Unfall“ des Vaters erzählt. Später wurde daraus ein „Mord“. Im vergangenen Jahr empfing der französische Präsident Ismaël Omar Guelleh zu den Jubiläumsfeiern der alliierten Landung. Da sagte Elisabeth Borrels Sohn: „Chirac sollte Papas Mörder wenigstens nicht umarmen.“

Demnächst wird der Junge achtzehn. Volljährig. Bevor sie ihn zu einer Gerichtsverhandlung mitnimmt, will sie noch warten: „Das ist so negativ. Er beginnt gerade erst im Leben.“