berliner szenen
: Die Expertin für Schlangen

Ich bin total korrupt. Ich kaufe überall ein. Der Konzern ist mir schnurz. Ich kaufe auch bei Amazon. Ja, ich schäme mich. Aber nur fünf Minuten. Dann muss ich wieder los. Einkaufen. Der Kühlschrank ist leer. Eigentlich ist der immer leer, egal, wie oft ich einkaufe.

Eine gute Freundin hat mir die Aldi-Filiale am Maybachufer empfohlen. Da wären die Schlangen nicht so lang wie überall anderswo und die Kas­sie­re­r:in­nen noch vom alten Schlag, also herzerfrischend unfreundlich wie früher, als alles selbstverständlich um Längen besser war.

Ich stehe am Ende einer Fünfzehn-Meter-Schlange und wundere mich, warum der Fortschritt nicht schneller geht. Ich habe es eilig, obwohl ich eigentlich nichts anderes zu tun habe. Manche mögen das seltsam finden. Ich nicht. Ich stehe in der Schlange.

Vorne an der Kasse versucht ein stylisch frisierter junger Mann wirklich alles, aber die Kundin mit einem maroden Fetzen von Kleid und grellrot geschminkten Lippen findet ihre EC-Karte nicht. Nein, Bargeld habe sie nicht dabei. Sie habe immer Angst, ausgeraubt zu werden, erklärt sie und lächelt in die Schlange. Dabei zeigt sie ihre Zähne.

Der junge Mann will schon ihre zwei Kleinigkeiten, eine Flasche Wodka und eine Packung Scheibenbrot, sachte beiseite schieben und den nächsten Kunden vorziehen, als sie sich zu wehren beginnt. Nichts da, sagt sie mit einem Mal laut, warum haste es denn so eilig? Wir sitzen doch alle im gleichen Boot!

Ich nicke deprimiert von hinten und sehe im gleichen Moment die Aldi-Freundin hereinkommen. Und was sehe ich noch?! Ohne sich um mich zu kümmern, wirft sie aus der Ferne einen Kennerblick auf die Schlange und ist gleich wieder draußen. Wahrscheinlich geht sie zu Lidl nebenan. Da ist die Schlange bestimmt kürzer.

Henning Brüns