Die geraubten Kinder vom Campo de Mayo

ARGENTINIEN Ex-Diktator Videla wegen systematischen Raubes von Kindern politischer Gefangener zu 50 Jahren Haft verurteilt. Er zeigt im Prozess keine Reue, sondern wirft den ermordeten Müttern vor, ihre ungeborenen Kinder als Schutzschilde missbraucht zu haben

1976 putschte das Militär unter Führung des Oberkommandierenden der Streitkräfte, Jorge Videla, gegen die Regierung von Isabel Perón. Die Militärs, die sich der Rückendeckung durch die USA sicher waren, gingen äußerst brutal gegen Regimegegner vor und töteten rund 30.000 Menschen. Nach dem verlorenen Falklandkrieg (1982) und wegen der eskalierenden Wirtschaftskrise war die Militärherrschaft nicht mehr aufrechtzuerhalten und endete 1983. (han)

AUS BUENOS AIRES JÜRGEN VOGT

An seinem 35. Geburtstag sitzt Francisco Madariaga Quintela in Buenos Aires im Gerichtssaal. Ob er tatsächlich am 5. Juli geboren ist, weiß er nicht. Die Militärs hatten den 7. Juli 1977 in seine Geburtsurkunde eingetragen. Ein Spleen der Militärs sei dieses Zahlenspiel gewesen, sagt er. Vor einigen Monaten hat er das Geburtsdatum ändern lassen. Er ahnte nicht, dass an diesem Datum ein auch für ihn historisches Urteil gesprochen wird.

Francisco hört, wie Exdiktator Jorge Rafael Videla wegen Kindesraubes zu 50 Jahren Haft verurteilt wird. Das 6. Bundesgericht in Buenos Aires spricht den 86-jährigen Videla als Hauptschuldigen des systematischen und geplanten Raubes von Kindern politischer Gefangener während der Militärherrschaft schuldig. Sechs mitangeklagte Exmilitärs erhalten Strafen zwischen 10 und 40 Jahren Gefängnis. Ein Adoptivelternpaar wird zu 5 sowie 15 Jahren Gefängnis verurteilt. Nur ein Exadmiral und ein Exgeheimdienstmitarbeiter werden freigesprochen.

Neben Francisco im Gerichtssaal sitzt Estela de Carlotto, die Präsidentin der Großmütter der Plaza de Mayo. Sie hatte Francisco vor zwei Jahren erzählt, wer seine wirklichen Eltern sind. Und dass seine Mutter Silvia Quintela am 17. Januar 1977 entführt und ins Gefangenenlager Campo de Mayo verschleppt worden war. Dort kam er in einer geheimen Entbindungsstation zur Welt. Wenige Stunden nach der Geburt wurden Francisco und seine Mutter für immer getrennt.

Silvia Quintela wurde bei erster Gelegenheit abtransportiert und wahrscheinlich bei einem der Todesflüge über dem Atlantik ins Meer geworfen. Der Vater Abel Madariaga überlebte im Exil. Heute sitzt er hinter seinem Sohn im Gerichtssaal.

Die Menschenrechtsorganisation Großmütter der Plaza de Mayo schätzt, dass rund 500 Säuglinge ihren Müttern in Folterzentren weggenommen und heimlich Adoptiveltern übergeben wurden. Die inhaftierten Mütter wurden nach der Geburt ermordet. Viele zählen zu den Verschwundenen der Diktatur, da ihr Schicksal bis heute unklar ist. Durch intensive Suche konnten die Abuelas über 100 geraubte Enkelkinder ausfindig machen. Francisco ist Enkel 101.

In dem gut eineinhalb Jahre dauernden Verfahren wurden 35 exemplarische Fälle von Kindesraub verhandelt. Sie sollten zeigen, dass den Verbrechen ein systematischer Plan zur illegalen Aneignung der Neugeborenen in neun geheimen Gefangenenlagern zugrunde lag. Der wichtigste Beweis der Anklage waren die eigens für die Geburten in einigen Lagern eingerichteten geheimen Entbindungsstationen. Von den 35 in der Haft geborenen konnten 26 ihre wahre Identität herausfinden. Von den anderen fehlen die Spuren.

Die Militärs hatten den Plan nicht in der Tasche, als sie sich am 24. März 1976 an die Macht putschten, sagte Staatsanwalt Martín Niklison. Sie sahen sich einfach damit konfrontiert, dass unter den verschleppten Regimegegnern schwangere Frauen waren. Darauf mussten sie reagieren. Eine geplante Reaktion war der Bau der Kreißsäle in den Lagern, so Niklison.

„Über 32 Jahre haben sie mir das Recht genommen, bei meinem Vater zu sein“

ADOPTIERTER FRANCISCO M. QUINTELA

Der Prozesstag, bei dem Exdiktator Videla keine Reue zeigte, war für viele schwer zu ertragen. Einen Plan habe es nicht gegeben, „dagegen strikte Anweisungen, die schutzlosen Kinder den Familienangehörigen zu übergeben“, sagte Videla. Er nannte die Mütter „Terroristinnen“. Als „aktive Militante der Maschinerie des Terrorismus“ hätten sie ihre ungeborenen Kinder als menschliche Schutzschilde benutzt. Den Urteilsspruch werde er als Beitrag zur Aussöhnung und als weiteren Dienst für das Vaterland annehmen. Neue Hinweise zum Schicksal der verschwundenen Kinder, Mütter und Väter gaben weder Videla noch die anderen Exmilitärs.

Videla und die anderen Angeklagten sitzen nur ein paar Stuhlreihen vor Francisco. Als Richterin María del Carmen Roqueta das Strafmaß für das Adoptivelternpaar verkündet, ringt Francisco mit den Tränen. Der frühere Heeresoffizier Víctor Gallo und Susana Inés Colombo waren seine Adoptiveltern. Als die Worte „15 Jahre“, „5 Jahre“ fallen, presst er die Lippen zusammen, unterdrückt Wut und Erleichterung. „Über 32 Jahre haben sie mir das Recht genommen, bei meinem Vater zu sein und zu wissen, wer meine Mutter ist.“ Vater Abel legt ihm die Hand auf die Schulter.

Vor dem Gerichtsgebäude haben die Großmütter eine Bühne aufbauen lassen. Hunderte verfolgen die Übertragung der Urteilsverkündung per Großbildschirm. „Historisches Urteil“, „Gerechtigkeit nach all den Jahren“ ist zu hören und Dank an den verstorbenen Néstor Kirchner, unter dessen Präsidentschaft die juristische Aufarbeitung der Diktatur wieder Fahrt aufnahm. Danach ausgelassene Freude und Feierstimmung pur.