berliner szenen: Eine fast dörfliche Idylle
Eine Freundin übernimmt immer die Freitagsschicht in einem Umsonstladen in Friedrichshain. Es herrscht stets ein reges Kommen und Gehen. Manche bringen was, die meisten suchen nach etwas Brauchbarem, viele kommen täglich. Eine Kollegin räumt endlos Klamotten raus und hängt sie an Kleiderständer, die auf dem Gehweg stehen, anderes räumt sie wieder hinein in den dunklen, muffigen Laden, ein System ist bei oberflächlicher Betrachtung nicht erkennbar. Wir sitzen draußen auf der Bank und verfolgen, wie direkt gegenüber ein bunter Zaun entsteht. Ein Dreadlockpärchen und eine junge Frau bemalen mit Hingabe je ein Absperrelement aus dickem wulstigem Plastik, denn ab sofort gehören drei Autostellplätze, vom Verkehrsamt genehmigt, zum Außenbereich der kleinen Punkbar nebenan. Die Freundin hatte von dort auch soeben gekühlte Getränke spendiert.
Ein kleines Mädchen in blauem Tüllrock matscht mit der restlichen Farbe auf den Pflastersteinen. Ein Weilchen später trägt sie ein rosafarbenes Kleid wie von Laura Ashley, das ihre Oma im Laden gefunden hat. Das Mädchen wirkt so glücklich, dass wir gar nicht aufhören können, dieses Idyll zu besingen.
Dann fahr ich mit einem neuen T-Shirt, einer neuen schönen Jacke und dem ersten Band von Elena Ferrantes Neapel-Saga heim ins Nachbardorf. Wenige Schritte abseits eines Wegs im Görlitzer Park liegt ein junger blonder Mann mit heruntergelassenen Hosen, guckt verträumt und einen Tick erwartungsvoll zur Radlerin hinüber.
Der Spalt, den die aufgestellten Beine ergeben, ist eigenartig reizvoll, davor baumelt allerdings das Hodenzeugs. Wie hingegossen liegt diese Triebfeder im vergilbten Gras und ist seelenruhig am Wichsen. Ich find’s gar nicht so schlimm, schau trotzdem schnell weg und frage mich, ob das auch unter Idylle läuft. Katrin Schings
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