Lernen in Iraks Ausnahmezustand

Porträts von Saddam Hussein sind aus den Schulbüchern verschwunden. Ansonsten hat sich in den Schulen des Iraks wenig geändert. Die Schülerinnen einer Abiturklasse in Kirkuk plagt vor allem die Zunahme der Kriminalität

KIRKUK taz ■ „Saddam?“ Erschrocken dehnt Anfal al-Dschuburi die Silben des Namens des einstigen Herrschers. Sie blickt verlegen in die Runde ihrer Klassenkameradinnen vom Mädchengymnasium im Zentrum Kirkuks. Teenager verstummen, die eben noch munter gekichert haben. Im Jahr drei der Neuordnung des Iraks ist es für Schüler noch immer ungebührlich, sich öffentlich über den einstigen Despoten zu äußern.

„Das ist auch unsere Schuld“, sagt die Lehrerin Suad Ahmed. „Jahrelang haben wir unseren Schülern eingetrichtert, dass sie Saddam wie ihren eigenen Vater lieben und verehren müssten.“ Selbst ihren Kindern habe sie es eingebläut – obwohl sie das Ende der Diktatur wünschte. „Heute tun wir so, als sei nichts gewesen und lassen die Schüler mit ihren Fragen und Konflikten allein“, sagt die Gymnasiallehrerin.

Aus den Schulbüchern und Klassenzimmern sind zwar die Porträts von Saddam Hussein verschwunden. Darüber hinaus hat sich am Unterricht wenig geändert. Nach wie vor gelten die alten Lehrpläne. Auch die Unterrichtsmethoden sind die Gleichen geblieben. Als sich eine Kommission vor zwei Jahren anschickte, neue Curricula auszuarbeiten, scheiterte das ehrgeizige Vorhaben am erbitterten Streit zwischen den Gegnern des früheren Regimes. Jahrzehnte wurde die Schüler gelehrt, dass die irakische Geschichte vor allem eine glorreiche Geschichte der Araber ist, die in direkter Linie vom babylonischen Herrscher Nebukadnezar bis zu Saddam Hussein führt. Sollen sie jetzt lernen, dass die Kurden schon in der Frühzeit eigene Dynastien hervorgebracht hatten? Wie viel Platz soll dem Islam in den künftigen Schulbüchern eingeräumt werden? Und: Hat der Krieg den Irakern die Befreiung oder die Unterwerfung unter eine Fremdherrschaft gebracht?

Doch von diesen heiklen inhaltlichen Fragen abgesehen, hat die neue Führung bislang auch sonst keine durchsichtige Bildungspolitik entwickelt. Tausende hochrangige Kader von Saddams Baath-Partei, die unmittelbar nach dem Sturz des Regimes aus dem Schuldienst entlassen wurden, hat Interimsregierungschef Ajad Allawi später wieder eingestellt. Das schiitische Bündnis, das im Januar die Wahlen gewonnen hat, will indes wieder zur geplanten Entbaathifizierung des Staatsapparats zurückkehren. Obwohl Suad Ahmed die Entbaathifizierung grundsätzlich gutheißt, hält sie nichts von einer neuen Entlassungswelle. „Früher hatte ich wegen der Gängeleien und Demütigungen, weil ich nicht in der Partei war, schlaflose Nächte“, sagt die kräftige Mittvierzigerin. „Aber das ist vorbei.“ Statt dessen fordert sie den Ausbau der Schulen und eine Reform des Unterrichtswesens.

Am Gymnasium von Anfal al-Dschuburi finden an diesem Tag die letzten Prüfungen für das Abitur statt. An schlichten Holzbänken schwitzen die Schülerinnen über den Biologieaufgaben. Obwohl das Thermometer draußen bereits 43 Grad anzeigt, sorgt in dem Klassenraum nur ein einfacher Deckenventilator für Kühlung.

Zwar wurden die nach dem Krieg geplünderten Schulen inzwischen weitgehend instand gesetzt. Doch den seit Jahren anhaltenden Abwärtstrend im irakischen Bildungswesen konnte auch die neue Regierung bislang nicht stoppen. Galt das Zweistromland in den Achtzigerjahren noch als vorbildlich für die gesamte Region, haben Kriege und Embargo dazu geführt, dass es im Bildungsniveau mittlerweile weit hinter seinen Nachbarländern Syrien und Jordanien zurückliegt.

Anfal al-Dschuburi und ihren Klassenkameradinnen brennt freilich etwas ganz anderes unter den Nägeln. „Unter Saddam mussten wir uns wenigstens nicht um unsere Sicherheit sorgen“, sagt die 18-Jährige und blickt vorsichtig in die Mädchenrunde. Als hätten sie nur auf das Stichwort gewartet, rufen alle im Chor: „Genau!“ „Früher gab es hier keine Wachen“, wirft Anfals Freundin Iman ein. Der Zugang zu der Schule im Zentrum der Stadt ist durch eine Betonbarriere abgesperrt, zwei bewaffnete Polizisten kontrollieren penibel Ausweise und Taschen jedes Besuchers. Erst vor wenigen Tagen hat sich ein Selbstmordattentäter vor einer Bank in Kirkuk in die Luft gesprengt und 22 Personen mit in den Tod gerissen.

Die Vorsichtsmaßnahme gilt indes weniger möglichen Selbstmordattentätern als den kriminellen Banden, die in Kirkuk neuerdings Kinder aus wohlhabenden Familien entführen, um von den Eltern hohe Lösegeldsummen zu erpressen. Die frisch gebackenen Abiturientinnen dürfen deswegen seit Monaten das Haus nicht mehr alleine verlassen. In der sengenden Sonne warten sie darauf, von ihren Vätern abgeholt zu werden. Als bedürfte es noch eines Beweises, knallt eine Kalaschnikowsalve in die träge Mittagsruhe. „Da hören Sie es selbst“, sagt Anfal. „Jetzt verderben sie uns sogar noch unsere Abschlussfeier.“ INGA ROGG