Birte Müller Die schwer mehrfach normale Familie: Wir haben so ein Glück!
Ende März sagte eine Bekannte zu mir: „Ihr habt so ein Glück! Mit einem behinderten Kind könnt ihr euch schon impfen lassen.“ Bis dahin hatte ich nie das Gefühl gehabt, sie würde unseren Sohn Willi als ein besonderes Glück betrachten.
Bei meinem ersten Termin im Impfzentrum lag tatsächlich ein Gefühl von Glück in der Luft. Ich war so ergriffen, dass ich die ganze Zeit heulen musste: Endlich ein Schritt in Richtung Ende der Pandemie – irgendwann würde ich mein Gefängnis aus Homeschooling, Haushalt und Murmelbahn wieder verlassen können.
Ich habe im Lockdown so endlos viele Stunden mit Willi beim Murmeln verbracht, dass ich nicht mehr ganz sicher bin, ob ich dadurch eigentlich in eine Depression oder in einen höheren Bewusstseinszustand gerutscht bin. Willi lässt die Murmeln von oben die Bahn herunterkullern. Ganz am Ende der Bahn muss ich sitzen und die Murmeln in Eimern auffangen und sie ihm wieder zurückgeben.
Ab und zu gibt es einen Stau, dann bringe ich die Kugeln wieder in den Fluss. Manchmal sortieren wir auch die Murmeln nach Farben, es sind Hunderte, wenn nicht Tausende. Irgendwann fängt Willi dann plötzlich wieder an zu murmeln und schüttet alle durcheinander zurück auf die Bahn.
Vielleicht so hundert Stunden nachdem ich schon lange keine Lust mehr auf Murmeln hatte, fing ich an, es als potenzielle Meditationsübung zu sehen. Die folgenden hundert Stunden versuchte ich beim Murmeln meine Gedanken fließen zu lassen, statt immer nur zu überlegen, was ich eigentlich lieber machen würde. Schwierig. Das monotone Geräusch der Glasmurmeln auf dem Holz hilft dabei. Wenn Willi seine ätzende Kika-Tanzalarm-CD anmacht, ist die Herausforderung ungleich größer. Als nächstes würde ich gern das Denken ganz weglassen. Soweit bin ich aber noch nicht. Mir gelingt es auf meinem Weg der Murmel-Erleuchtung auch noch nicht, meine Gedanken nicht zu bewerten.
Bei meinem zweiten Besuch im Impfzentrum war die ehrfürchtige Stimmung leider schon weggedrängelt worden. Die Ärztin knallte mir den ausgefüllten Impfausweis auf den Tisch und verließ die Kabine mit den Worten. „Damit können Sie ja jetzt wieder alles machen.“
Birte Müller
47, ist Illustratorin, Autorin und Mutter von Willi (14) mit Downsyndrom und Olivia (12) mit Normalsyndrom. Im Februar hat sie das Kinderbuch „Wie krank ist das denn?“ mit Yannick de la Pêche veröffentlicht.
Ich fuhr nach Hause, murmelte ein paar Stunden mit Willi und dachte über diese Worte nach: „Alles machen“. Welche Mutter kann oder will denn „alles machen“? Also ich kann mit meinem Sohn nie irgendwohin in den Urlaub fliegen oder ins Restaurant gehen – mit oder ohne Impfung. Dafür ist die Murmelbahn viel zu schwer.
Aber wenn Willi auch geimpft ist, dann werden wir echt „alles machen“! Also, was man mit Willi halt so machen kann. Als erstes gehen wir gemeinsam zum Bäcker. Danach fahren wir so lange U-Bahn und Bus, wie Willi möchte. Und wenn er sich dabei so verhält, wie sich andere Menschen nicht verhalten, denke ich ans Murmeln und bleibe ruhig und gelassen. Vielleicht wird es auch irgendwann wieder ein Konzert im Park geben. Willis Freude darüber wird dann ansteckender sein als jedes Virus! Und ich werde auch wieder sagen: Wir haben so ein Glück!
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