Im Meer sieht man das Meer nicht mehr

TIEFSEE Weder Kälte noch Lichtlosigkeit führen dazu, dem Leben die Kraft zu rauben. Das kann man am Beispiel von bizarren Lebensgemeinschaften in der Ausstellung „Tiefsee“ im Berliner Naturkundemuseum lernen

Für Tiere, die nicht an heißen Quellen sitzen, ist es schwierig, einen Geschlechtspartner zu finden

VON CORD RIECHELMANN

Auf dem Mond kennen wir uns besser aus als in der Tiefsee, das hat verschiedene Gründe. Einer hat mit den Dimensionen zu tun. 62 Prozent der Erdoberfläche werden von Tiefseegebieten ausgefüllt. Das ist Platz genug, um mehrere Monde darin zu versenken und dem Sonnenlicht zu entziehen. Damit ist der zweite Grund für die Unwirtlichkeit der Tiefsee in den Blick geraten: 4.000 Meter unter dem Meeresspiegel ist es stockdunkel und in der Regel eiskalt. Deshalb nahm man noch bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts an, dass unterhalb von 500 Metern Tiefe kein Leben möglich und der Boden der Ozeane mit Eis bedeckt sei.

Dass aber weder Kälte noch Lichtlosigkeit dazu führen, dem Leben die Kraft zu rauben, kann man in der Sonderausstellung „Tiefsee“ im Berliner Naturkundemuseum lernen. Es gibt in den Tiefen der Meere Energiequellen, um die sich Lebensgemeinschaften entwickelten, die ohne Sonnenlicht auskommen. Es sind heiße Quellen, aus deren Schloten gelöste Elemente strömen. Kochend wie Lava, nur viel feiner in der Konsistenz, dienen diese Elemente Bakterien als Energiequelle. Um die Bakterien haben sich vielfältige Organismen entwickelt. Tiefseegarnelen, Krabben, Schlotmuscheln und bizarre Würmer, die meist in kalkigen Röhren leben.

Lebensräume schaffen

An den Würmern lässt sich gut studieren, dass Lebensgemeinschaften bereits in ihren frühesten Stadien nicht nur auf Fressen und Gefressenwerden basieren, sondern sich gegenseitig Lebensräume schaffen. So lebt der fünfzehn Zentimeter lange Pompejiwurm bevorzugt in 70 Grad Celsius heißer Umgebung in 2.000 bis 3.00 Meter Tiefe. Er ist das hitzebeständigste Tier der Welt. Weil er seine Umgebung abkühlt, ermöglicht der Wurm Bakterien in unmittelbarer Nähe die Existenz. Der Riesenröhrenwurm, ein bis zu 1,70 Meter langes Tier, lebt an den Rändern der Quellen in Symbiose mit Bakterien. In seinem Innern sind diese vor Fressfeinden geschützt, und dafür liefern sie dem Wurm Nährstoffe.

So eng und vielfältig sich das Leben um die Black Smokers, wie man die Quellen im Forscherjargon nennt, entfaltet, so verstreut liegen diese aber auch auf dem Tiefseeboden auseinander. Für die Lebewesen in den Tiefen ist das ein erhebliches Problem. Es ist für Tiere, die nicht an den Quellen sitzen, genauso schwierig, einen Geschlechtspartner zu finden, wie das bisschen Licht einzusammeln, das sich nach unten verirrt.

Trotz der Finsternis orientieren sich die meisten Lebewesen über den Sehsinn. Das hat zu Anpassungen geführt, die bedingen, dass die Augen der Tiefseetiere oft groß und hochempfindlich sind. Und obwohl sie mit den Augen noch den letzten Lichtstrahl einfangen, bündeln und sich im Nahbereich ein scharfes Bild machen können, werden die Tiere in der überwiegenden Zeit nichts als öde Wassermassen sehen. Die Tiefsee ist dünn besiedelt, und es kann lange dauern, bis man Futter oder einen Partner gefunden hat.

Meditative Stimmung

Von der Öde bekommt man im Naturkundemuseum in einem begehbaren U-Boot einen guten Eindruck. Elf Meter lang ist das Boot, und über Monitore kann man in das Dunkel des Tiefsseewassers blicken. Was einen vor den Monitoren im bequemen Sessel in eine meditative Stimmung versetzen kann, schlägt aber leicht in Klaustrophobie um. Denn wer sich im Meer bewegt, sieht das Meer nicht. Beziehungsweise nur die Schicht, in der man sich gerade bewegt. Dazu kommt der ungeheure Druck des Wassers auf die Gehäuse, mit denen Menschen in die Tiefsee vordringen. In der Ausstellung wird das eindringlich an einem Modell der Tauchkugel „Bathysphäre“ demonstriert. Mit der im Durchmesser nur eineinhalb Meter Platz bietenden Kugel hatten zwei Tiefseeforscher der New Yorker Zoological Society zwischen 1930 und 1934 mehrere Tauchgänge durchgeführt. Dass sie dabei psychischen Schaden genommen haben, ist nicht bekannt, man selbst sehnt sich aber sofort nach den überschaubaren Weiten der Mondkrater.

Es ist vielleicht einer der gelungensten Aspekte der Ausstellung, dass sie es schafft, den Besucher auf dem Boden der Tatsachen zu halten, als sie nicht so tut, als seien diese Weiten uns mir nichts, dir nichts zugänglich. Die Enge des Forschungshorizonts findet ihre Entsprechung in der räumlichen Präsentation. Hier wird nicht geklotzt, sondern sachlich die Geschichte der Erforschung der Tiefsee repräsentiert. Geschichtsbewusst bleibt dabei selbst die Darstellung der Sensation: ein Weibchen des Tiefseeanglers, dem ein winziges Zwergmännchen anhaftet. Mit dem Weibchen verwachsen ist es zum Parasiten geworden, das nur eine Aufgabe hat: die Besamung der Eier. Das Präparat ist das einzige seiner Art weltweit und stammt aus einer Fangfahrt des Instituts für Hochseefischerei der DDR.

■ Bis 31. Januar. Di. bis Fr. 9.30 bis 17 Uhr; Wochenende 10–18 Uhr