Traumhaft-unwirkliche Gestalten

Von den Nazis verfemt, von der Nachkriegszeit verdrängt: In Walter Gramattés Kunst verschwimmen die Grenzen zwischen Expressionismus und magischem Realismus. Endlich ist es möglich, ihr in Hamburgs Kunsthalle direkt zu begegnen

Kreide, Pinsel, schwarz, grün, rot: Selbstbildnis des Walter Gramatés als blutjunger Maler unter Bäumen Foto: Christoph Irrgang/Kunsthalle HH

Von Hajo Schiff

Die „Goldenen Zwanziger Jahre“ waren in Wirklichkeit eine problematische Zeit. Auf allen Ebenen rang die Weimarer Republik um ihr Selbst- und Weltverständnis. Ein Künstler, der dies exemplarisch zum Ausdruck bringt, ist Walter Gramatté. Dass der heute eher unbekannt ist, ist bezeichnend: Er gehört zu der „verschollenen Generation“, die von der nationalsozialistischen Kulturpolitik leider sehr erfolgreich verfemt wurde. Und Corona schien der Verdrängungsgeschichte fast noch ein Kapitel hinzufügen zu wollen. Schon im November hatte die große Retrospektive in der Hamburger Kunsthalle einladen wollen, den großen Unbekannten zu entdecken. Ermöglicht hat sie dann den Online-Zugang. Aber wer Bildern real begegnen will und sie nicht bloß digital gucken mag, kann das erst jetzt.

Die Auswirkungen der NS-Politik lassen sich am Vergessen Gramattés besonders deutlich erkennen: In der Kunstszene seiner Zeit war er gut vernetzt, besonders von Hamburger Sammlern geschätzt, und auch die Kunsthalle tätigte Ankäufe seiner Grafik. Noch 1933 gab es dort in fünf Räumen eine größere Ausstellung „zum Gedächtnis“, denn Gramatté war schon 1929 in einer Hamburger Klinik an den langfristigen Folgen seiner Erkrankungen im Ersten Weltkrieg verstorben.

In fünfzehn Selbstporträts stellt sich der 1897 in Berlin geborene Künstler nun in der aktuellen Ausstellung in der Kunsthalle wieder vor und offenbart sich dabei als jemand, der auch sich selbst nicht kannte, der über die Selbsterforschung hinaus stets in Kunst und Leben auf der Suche war.

Die befreundete Hamburger Kunsthistorikerin und Übersetzerin, Sammlerin und Mäzenin sowie große Förderin der Expressionisten, Rosa Schapire, schrieb 1920 anlässlich einer Ausstellung seiner Arbeiten im Hamburger Kunstsalon Maria Kunde: „Etwas Traumhaft-Unwirkliches geistert hinter seinen Gestalten. Lebensangst flackert in weit aufgerissenen Augen, in hochgesträubtem Haar, in krampfhaft greifenden Händen.“

In der Lithographie „Selbstbildnis unter Bäumen“ von 1921 – im gleichen Jahr von der Kunsthalle angekauft – schaut Gramatté mit großen Augen und schmalen Lippen aus dem Bild. Im starken Kontrast zum ruhigen Grün der umrahmenden Bäume sind in geradezu blutigem Rot die Augen und die Knöchel der verkrampft gefalteten Hände betont. So sind Auge und Hand als für die Kunst zentral hervorgehoben, doch der Künstler litt neben der Darmtuberkulose auch an der Gelenkerkrankung Arthrose, die ihm das graphische Arbeiten erschwerte. Und die Bäume gehören zum Grundstück in Hermsdorf im Norden von Berlin, wo Gramatté gerade das ehemalige Atelier von Max Beckmann gemietet hatte.

Ein Blickfang der Ausstellung ist sicherlich das Ölbild von Almería und seiner Burg in hellen sonnendurchtränkten Farben

Leider erwies sich das Haus aber als praktisch nicht beheizbar, sodass dem Künstler und seiner Frau, der russischen Musikerin und Komponistin Sophie-Carmen Fridman, winters eine Wohnung fehlte. Gramatté hatte 1920 zum zweiten Mal geheiratet, seine erste Ehe wurde 1919 nach nur sieben Monaten geschieden.

Trotz seines umtriebigen Lebens zwischen Berlin und Hamburg, seiner Reisen nach Hiddensee, der Schweiz, Venedig, Paris und Schlesien, trotz Freundschaft mit den Expressionisten Erich Heckel und Karl Schmidt-Rottluff, trotz gelegentlicher Ankäufe und der Aufträge zur Illustration von Büchern wie Büchners „Lenz“, dessen Erzählung vom mit dem Wahnsinn kämpfenden Dichter Gramatté sehr nahe ging, sah er in Deutschland für sich keine gute Zukunft.

1924 beschloss das Ehepaar auszuwandern und fuhr mit dem Schiff nach Barcelona. Weite Reisen durch Spanien führten zu einer starken Konzentration auf Landschaftsdarstellungen; ein graphischer Zyklus über Spanien entstand. Dieser Teil des Werkes ist neben den zahlreichen Porträts von sich und seiner Frau ein zweiter Schwerpunkt der Hamburger Ausstellung. Dabei ist das Ölbild von Almería und seiner Burg in hellen sonnendurchtränkten Farben sicherlich ein Blickfang.

Doch 1926 kehrte das Paar wiederum enttäuscht zurück nach Berlin – schon dazwischen war Gramatté mehrfach zu Klinikaufenthalten und Erholung an die Ostsee gereist. Doch alle Bemühungen seines Hamburger Freundes, Mäzens und Arztes Paul Sudeck halfen nichts: Im Februar 1929 starb Walter Gramatté nach nur etwa zehnjähriger Schaffenszeit mit 32 Jahren.

Bemerkenswert ist, dass die ganze Hamburger Ausstellung aus eigenem, etwa 100 Arbeiten Gramattés umfassenden Besitz der Hamburger Kunsthalle zusammengestellt werden konnte. Denn durch eine großzügige Schenkung der in Kanada ansässigen Eckhardt-Gramatté Foundation erhielt die Kunsthalle 2019 eine Ergänzung von 47 graphischen Arbeiten und auch das Almería-Bild mit seiner blassen, leicht halluzinatorischen Anmutung. Kanada kommt übrigens ins Spiel, weil Sophie-Carmen Gramatté 1934 den Kunsthistoriker Ferdinand Eckhardt geheiratet hatte, der sich um den Nachlass ihres vorherigen Manns kümmerte. Mit ihm siedelte sie 1953 nach Winnipeg über.

Rosa Schapire war Gramattés wichtigste Förderin Foto: Irrgang/Kunsthalle HH

Die Zerrissenheit der 1920er-Jahre zeigt besonders eine Gruppe von vier Radierungen, in denen Gramatté sein Erleben in allegorische Form gefasst hat: „Der Beglückte“ unter Sonnenstrahlen und mit Blume hängt neben „Das Frieren“, einem vorm Feuer kauernden Wesen. Darunter „Das Müdesein“, eine düstere Person mit schweren, übergroßen Händen und Füßen und „Das Kreisen“, eine haltlose, dem Wahn nahe Figur. Links der Vierergruppe lockt der ambivalente Verzauberungsmoment eines Zirkusbildes, rechts droht die Verstörtheit namens „Mit dem Selbstmord spielen“.

Nach einem Besuch einer Ausstellung mit Werken Gramattés 1920 in Berlin schrieb der damalige Direktor der Hamburger Kunsthalle, Gustav Pauli: „Man kann sich hiernach vorstellen, wie ein weiches Künstlergemüt von den Schrecken der Zeit geängstigt und von den Zerfahrenheiten modernster Kunstbestrebungen hin- und hergezerrt wird. Einige der Bilder schildern Träume. Das soll wohl die Phantastik und Zusammenhanglosigkeit der Darstellung erklären. Das, was uns jetzt Not tut, ist eine neue Ordnung, auch in der Kunst und gerade in der Kunst.“

Die kam dann auch, aber ganz anders, als das 1920 erwünscht war. Pauli selbst wurde im Herbst 1933 aus dem Amt gedrängt, Rosa Schapire konnte noch 1939 nach England entkommen, ein Großteil ihrer Sammlung wurde entschädigungslos zwangsversteigert, ihre von Karl Schmidt-Rottluff gestaltete Wohnung durch Bomben zerstört. Die ebenfalls von ihm gestalte Grabstätte der Gramattés in Berlin wurde inzwischen immerhin von der Stadt zum Ehrengrab erklärt.

„Walter Gramatté und Hamburg“: bis 25. Juli, Hamburg, Kunsthalle