Alten Männern huldigen

STAATSOPER INFEKTION Jeden Abend John Cage, ausnahmsweise große Oper mit Wolfgang Rihm, Friedrich Nietzsche und Jonathan Meese

Rihm hatte sich schon immer mit dem Philosophen Nietzsche herumgeplagt

VON NIKLAUS HABLÜTZEL

Vor einem Jahr hatte Jürgen Flimm, Intendant der Staatsoper, noch große Pläne angekündigt. Am Ende jeder Saison sollte ein „Infektion!“ genanntes Festival Bilanz ziehen über die Lage des Musiktheaters heute. Nötig und nützlich wäre das allemal, und die erste Staffel setzte mit einigen exemplarischen Gastspielen durchaus bemerkenswerte Akzente. Was danach kam, war kaum mehr als ein Second-Hand-Laden für die Inszenierungen, die Flimm in seiner Zeit als Intendant der Salzburger Festspiele produziert hatte.

Nett, dass die Berliner Provinz noch mal nachschauen durfte, ob es denn auch wahr sei, dass in Salzburg alles ganz und gar großartig war. Es war nicht immer wahr – zum Beispiel nicht bei Luigi Nonos „Al gran Sole“ im März dieses Jahres. Die zweite Staffel der Flimm’schen Sommerserie fiel der zufälligen Tatsache zum Opfer, dass in in diesem Jahr John Cage 100 Jahre alt geworden wäre.

Statt über aktuelle Fragen der Oper zu debattieren, dürfen wir nun jeden Abend (bis zum 15. Juli) ab 18 Uhr an einer Sitzung teilnehmen, die bis Mitternacht dem andächtigen Gedenken dieses großen Geistes und Musikers gewidmet ist. Das genaue Programm ist jeweils an der Tageskasse zu erfragen, nebst musikalischen Opfergaben verschiedener Musiker ist auch mit Qigong-Übungen des Abtes Shi Yongchuan zu rechnen. Eine zweifellos wichtige Bereicherung der spirituellen Szene Berlins, der möglicherweise eine gewisse Reflexion ihres aktuellen Zustands auch guttäte, aber warum muss das ausgerechnet in der Staatsoper sein?

Immerhin, am Samstag hat die Akademie der Künste ihre Reproduktion der nunmehr 35 Jahre alten Choreografie „Solo mit Sofa“ von Reinhild Hoffmann vorgestellt, die zwar tatsächlich Musik von John Cage benutzt, aber längst über jede Diskussion erhaben zum Klassiker des deutschen Tanztheaters geworden ist. Und am Sonntag ging es sogar ganz ohne Cage zur Sache, wenn auch schon wieder mit einer Reprise. Flimm hat, wohl um wenigstens ein bisschen Oper in sein Infektions-Festival zu bringen, „Dionysos“ von Wolfgang Rihm in der Salzburger Inszenierung der Uraufführung von Pierre Audi mit dem Bühnenbild von Jonathan Meese nach Berlin geholt. Und in diesem Fall ist es wahr, dass es damals in Salzburg vor zwei Jahren ganz und gar großartig war.

Audi hatte gar nicht so viel zu tun, mit Rihm und Meese haben zwei kongeniale Kinder zu einer hinreißend fröhlichen und unterhaltsamen Aufführung zusammengefunden, der gar nichts heilig ist. Schön, wenn sich davon andere infizieren ließen. Rihm hatte sich schon immer, sagt er selbst, mit dem Philosophen Nietzsche herumgeplagt, der nun auch kein Freund strenger Logik war, wenn auch ganz anders als Cage. Nietzsche hat schwer atmend mit den sinnlosen Zufällen des Lebens gekämpft, Cage hat sie lächelnd hingenommen, und Rihm wiederum hat einen Text aus Nietzsches Nachlass („Dionysos und Dithyramben“) zum Anlass genommen, alles auszupacken, was in seinem prall gefülltem Koffer musikalischer Erfahrungen und Einfälle steckt: wilde Atonalität, triefende Romantik, subtile Kammermusik, große Symphonie, Klavierlied, Walzer, Schnulze und Lärm jeder Art. Das passt gut zu Nietzsches Fragmenten, in denen es um alles und nichts geht. Sie handeln von einem imaginären Mann, der zwischen Metaphysik und Sex hin- und hergerissen durch die Welt wandert und schließlich gehäutet ins Nichts verschwindet.

Drei Soprane, ein Alt, ein Tenor, ein Bariton, großer Chor und Orchester machen aus diesem mal poetischen, mal trivialen Gerede eines alten, verwirrten Mannes eine über zwei Stunden lange musikalische Fantasie, die klingt, als sei sie spontan und planlos improvisiert entstanden. Man hört und staunt, etwa so, wie auch Jonathan Meese zugehört und gestaunt haben muss. Er reagierte auf seine unverwechselbare Art mit Bildern, die aussehen, als seien sie eben mal mit dem Pinsel hingeschmiert wie ein Grafitto am Bahndamm. Sie sind es nicht, sie übersetzen Rihms musikalische Sprache überaus präzise in ein Medium, in dem sie sich voll ausleben darf. Beide sind auf ernsthafte Weise ironisch, weil sie Distanz schaffen, ohne sich über ihren Gegenstand lustig zu machen: total „Erznietzsche“, wie in einer der grandiosen Skizzen steht, die im Programmheft abgedruckt sind. Nur einige davon sind im Bühnenbild verwirklicht worden, aber es ist genug, um die Aufmerksamkeit zu fesseln. Leider gibt es nur noch heute und am 13. und 15. Juli weitere Aufführungen dieses wunderbaren Beispiels modernen Musiktheaters. Dann ist die „Infektion!“ auch schon wieder vorbei.