Soll auch Berlin die Schulen wieder ganz aufmachen?

Die Coronazahlen sind im freien Fall, im Nachbarland Brandenburg geht ab Montag der Komplettunterricht in der Grundschule wieder los. In Berlin hat sich der Senat dagegen entschieden. Muss das nun korrigiert werden?

Die Freunde in der Klasse nur online sehen – das geht mächtig auf die Nerven Foto: Annette Riedl/dpa/picture alliance

Sie sind zahlreich, die Beteuerungen von Berliner und Brandenburger Politikern, sich in der Corona-Pandemie miteinander abzustimmen – wegen der Nähe der Länder, wegen der Verflochtenheit, wegen der Pendlerströme. Aktuell aber klaffen derart propagierter Anspruch und Realität auseinander. An der (partei-)politischen Ausrichtung kann es nicht liegen: Beide Länder sind SPD-regiert, in beiden sind die Grünen Teil der Koalition.

Die Diskrepanz betrifft nicht nur die Schulen, wo Brandenburg schon im Januar anders als Berlin die Abschlussklassen an die Schulen zurück holte und wo nun ab Montag wieder alle Grundschüler in voller Klassenstärke an den Schulen sein sollen, eine Woche später auch die Oberschüler.

Nein, auch bei der Planung für die Hotellerie liegen Berlin und Brandenburg auseinander. Während die Landesregierung in Potsdam am Dienstag in Aussicht stellte, private Übernachtungen in Hotels und Pensionen ab 11. Juni wieder zuzulassen, ist das in Berlin erst eine Woche später vorgesehen.

Voraus ist Brandenburg auch bei Besuchen in Restaurants – der Außenbereich konnte schon zu Pfingsten öffnen: Ersteres soll ab dem 3. Juni wieder möglich sein, in Berlin ist das ebenfalls erst ab 18. Juni vorgesehen.

In einem Bereich allerdings sind die Brandenburger hinten dran, und das trotz der mit 27,1 niedrigeren Corona-Inzidenz als in Berlin, wo der Wert am Donnerstag 34,1 betrug: Während in der Hauptstadt seit Freitag in elf Frei- oder Strandbädern erstmals seit Herbst wieder Schwimmen möglich ist, mit negativem Coronatest und Online-Ticket, sollen Brandenburgs Bäder bis 9. Juni geschlossen bleiben. Das gilt etwa für das nur zwei Kilometer von Landesgrenze entfernte Bad in Kleinmachnow im Kreis Potsdam-Mittelmark, wo die 7-Tage-Inzidenz bereits auf 18,9 gesunken ist. Stefan Alberti

ja,

sagt Stefan Alberti

Eine Lage in Coronazeiten falsch einzuschätzen und sich zu korrigieren ist alles andere als verwerflich – zu vielfältig ist die Expertise, zu schnell sind die Veränderungen, und im Nachhinein ist man seit Ewigkeiten immer schlauer. Umso wichtiger ist bei Politikern die Fähigkeit, Beschlüsse zu überdenken und zu revidieren, wenn sich die Entscheidungsbasis verändert hat.

In dieser Situation ist gerade Regierungschef Michael Müller (SPD). Die Schulen würden bis zu den Sommerferien im Wechselunterricht bleiben, hat der Senat vor eineinhalb Wochen beschlossen, also jenem Modus, indem im Tages- oder Wochenwechsel jeweils nur eine Hälfte der Schüler in die Klassenräume kommt. Zwei Tage später bekräftigte Müller den Beschluss noch mal. Begründung: Es seien nur noch wenige Wochen bis zu den am 24. Juni startenden Sommerferien.

Seither aber sind zwei Dinge passiert: Anders als vielleicht befürchtet, ist der Coronarückgang nicht verebbt. Vielmehr hat sich die Inzidenz von 63,3 am Tag jenes Senatsbeschlusses auf nun 34,1 fast halbiert. Zudem entschied das Kabinett in Brandenburg, wo die Ferien am selben Tag ­starten, alle Schüler zusammen in die Klassen zu holen – SPD-Bildungsministerin Britta Ernst hatte das schon vorige Woche angekündigt.

Statt virologisch-epidemiologischer Gründe führt Müller angebliche Organisationsprobleme an, die für weiteren Wechselunterricht sprechen sollen. Doch was wäre groß zu organisieren? Außenstehende mögen ja vielleicht interne Schwierigkeiten nicht erkennen – aber worin besteht das Problem, Schülern zu sagen: Seid Montag bitte alle wieder in der Klasse?

Spitzenkandidatinnen machen Druck

Jenseits des Senats scheint sich in der rot-rot-grünen Koalition dazu etwas zu bewegen – aus der Opposition heraus verlangt die CDU sowieso all in. Bei den Grünen fordert jetzt nach Frak­tions­chefin Silke Gebel auch Spitzenkandidatin Bettina Jarasch das Ende des Wechselunterrichts. Gebel kritisiert zu Recht, es passe nicht zusammen, wenn bald wieder Kongresse mit 250 Menschen möglich sein sollen, die Kinder aber nicht zusammen in die Schule dürften. Und bei der SPD hat nun Spitzenkandidatin Franziska Giffey in einem Morgenpost-Interview den eigenen Parteifreunden in der Landesregierung nahegelegt, ihre Entscheidung zu überdenken.

Eltern, die gut mit dem Wechselbetrieb zurechtkamen, mögen sagen: Was soll’s? Viele andere aber werden über jeden Tag froh sein, an dem Haushalt und Homeoffice nicht länger mit Homeschooling zu verbinden sind. Und Bildungsexperten sagen längst, dass jeder Tag mehr im Klassenraum ein gewonnener Tag ist.

sagt Anna Klöpper

Die Schulen in Berlin, das muss man vorweg festhalten, sind derzeit nicht geschlossen. Der Wechselunterricht sieht vor, dass jedes Kind entweder einige Stunden täglich oder zweiwöchentlich mit vollem Stundenplan die Schule von innen und seine LehrerIn live sieht. Auch die Notbetreuung für Grundschulkinder im nachmittäglichen Schulhort wird ab kommenden Montag beendet. Dann haben wieder alle Kinder Anspruch auf Hausaufgabenhilfe und Schach-AG, nicht nur die aus „systemrelevantem“ Elternhaus.

Das ist noch nicht wieder der normale Regelbetrieb, aber es ist auch nicht nichts. Daran sollte man sich erinnern und kurz innehalten, bevor man in den Macht-die-Schulen-wieder-auf-Chor einstimmt, der nun angesichts einer rasant sinkenden 7-Tage-Inzidenz und einer raschen Rückkehr in den Präsenzunterricht in anderen Bundesländern, auch im Nachbarland Brandenburg, lauter wird. Besonders laut sind dabei übrigens die KandidatInnen diverser Parteien, die noch eine Wahl zu gewinnen (oder zu verlieren) haben in diesem Jahr. Eher zurückhaltend bisher: zentrale Akteure wie der Landeselternausschuss und die Gewerkschaften.

Keine Frage: Kinder mit Laptop und engagiertem Elternhaus sind, Stichwort Chancengerechtigkeit, beim Homeschooling im Vorteil. Und natürlich muss man ohne Frage ernst nehmen, wenn Kinder- und Jugendärzte vor negativen Langzeitfolgen durch den eingeschränkten Schulbetrieb in der Pandemie mahnen. Wenn die Polizeiliche Kriminalstatistik, die am Mittwoch vorgestellt wurde, bundesweit einen Anstieg der Kindesmisshandlungen um 10 Prozent registriert – die meisten Taten im häuslichen Umfeld –, ist das schlicht alarmierend. Zumal ExpertInnen und Beratungsstellen immer wieder darauf hinweisen, dass in den Lockdowns die Hilfeersuchen eher abnehmen – weil Schutzräume wie Schule eben nicht da sind, weil LehrerInnen blaue Flecken nicht sehen können.

Das Lernen funktioniert

Nun sind die Schulen aber nicht mehr im Lockdown. Und wenn man Schulleitungen fragt, dann sagen die oft: Wir erreichen die Kinder, das Lernen in den kleineren Gruppen funk­tio­niert gut, manchmal sogar besser als vorher. Und die Kinder, die wir lange nicht sehen oder die schon vor der Pandemie Sorge bereitet haben, haben wir ohnehin auf dem Schirm.

In vier Wochen sind Sommerferien, Berlin ist dieses Jahr unter den frühen Ländern. Nach den Ferien dürften, wenn vielleicht noch nicht die Jugendlichen, so doch ein großer Teil der Erwachsenen geimpft sein. Wenn man dann die Schulen nach den Ferien wieder vollständig öffnet, kann man vermutlich sicher sein, dass sie auch offen bleiben. Und das ist doch das Ziel.